EU-Gipfel: Scherbengericht über Orban und Offenbarungseid der Kanzlerin

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Mit seinem Gesetz zur Einschränkung von Informationen über Homosexualität hat Ungarn beim EU-Gipfel massive Kritik auf sich gezogen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und 16 weitere Staats- und Regierungschefs hatten bereits vor dem EU-Gipfel in einem Schreiben gefordert, die Rechte sexueller Minderheiten zu schützen.  

„Wir haben hier alle sehr deutlich gemacht, welche grundlegenden Werte wir verfolgen. {...} Es war durchaus eine kontroverse, aber sehr, sehr ehrliche Diskussion.“ 

Wer Bundeskanzlerin Angela Merkels (CDU) Sprache kennt, fühlt in diesen Sätzen nach dem Ende des ersten Gipfeltages in der Nacht zum Freitag die Verwerfungen, die wohl entstanden sein müssen.

EU-Scherbengericht über Orban

Foto: Dursun Aydemir / Anadolu Agencyvia AFP

„Diesmal geht es zu weit“, sagte der Premierminister der Niederlande Mark Rutte nach Angaben aus EU-Kreisen in der rund zweistündigen und demnach zum Teil „emotional“ geführten Debatte zu Orban. Er rief den ungarischen Regierungschef auf, wie Großbritannien ein Austrittsverfahren nach Artikel 50 des EU-Vertrags einzuleiten, wenn er die europäischen Werte nicht achten wolle. Eigene Mittel zum Rauswurf eines missliebigen Mitgliedstaats hat die EU nicht. Scharf ging auch der luxemburgische Ministerpräsident Xavier Bettel mit Orban ins Gericht. Bettel lebt selbst offen schwul und ist mit seinem Partner seit 2015 verheiratet.

„Du hast eine rote Linie überschritten“,

sagte er nach Angaben aus EU-Kreisen zu Orban. „Das ist nicht das Europa, in dem ich leben möchte.“

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EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte das Gesetz am Mittwoch als „Schande“ bezeichnet. Ihre Behörde will demnach mit allen ihr zur Verfügung stehenden rechtlichen Mitteln dagegen vorgehen. Konkret habe sie klargemacht, „dass sie ein Vertragsverletzungsverfahren starten wird“, sagte Belgiens Ministerpräsident Alexander De Croo. Ein solches kann bis zu einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof führen. 

Orban verteidigt Gesetz ...

Ungarns Regierungschef Viktor Orban hat die Kritik anderer EU-Staaten zurückgewiesen. Die Kritiker hätten das Gesetz offenbar nicht gelesen, sagte er am Donnerstag vor dem EU-Gipfel in Brüssel. Es richte sich nicht gegen Homosexuelle, sondern gebe Eltern das Recht zu entscheiden, wie ihre Kinder erzogen würden. Er selbst habe sich zu Zeit des Kommunismus für die Rechte von Homosexuellen eingesetzt. 

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Auch nach der Standpauke durch die anderen Staaten lehnte er es ab, das Gesetz gegen „Werbung“ für Homo- und Transsexualität zurückzuziehen. Er betonte, die vor rund zehn Tagen vom Parlament verabschiedete Neuregelung richte sich gar nicht gegen Homosexuelle. Vielmehr gebe sie Eltern lediglich das „exklusive Recht auf die Sexualerziehung ihrer Kinder". Das Gesetz verbietet etwa Bildungsprogramme zu Homosexualität oder Werbung von Großunternehmen, die sich mit Schwulen oder Lesben solidarisch erklären. Auch Aufklärungsbücher zu dem Thema sind demnach untersagt. Offizielles Ziel ist der Schutz von Minderjährigen.

... Präsident Janos Ader unterzeichnet es

Ungarns Präsident Ader hat die umstrittene Vorlage inzwischen unterzeichnet, sie tritt nach Veröffentlichung im Amtsblatt voraussichtlich im Juli in Kraft.

Beim Thema Grundrechte liegt Ungarn schon seit Jahren mit der EU im Clinch: Dabei geht es unter anderem um das Vorgehen der Regierung in Budapest gegen kritische Medien. Gegen das Land läuft deshalb ein Strafverfahren, das bis zum Entzug der Stimmrechte auf EU-Ebene führen kann. Bisher fehlte aber eine ausreichende Mehrheit unter den Mitgliedstaaten, um das einzuleiten. Ob sich das jetzt ändert?

„Das war keine diplomatische Diskussion, das war ziemlich konfrontativ“, sagte Alexander De Croo zusammenfassend. Er habe eine derartige Auseinandersetzung bei einem EU-Gipfel noch nicht erlebt. Lediglich Polen habe Ungarn unterstützt und Slowenien „ein wenig“. 

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Beistand für Ungarn aus Polen

Der polnische Botschafter in Berlin, Andrzej Przylebski, hatte die ungarische Regierung bereits am Mittwoch gegen die europäische Kritik am ungarischen Gesetz über den Umgang mit Homosexualität und Transgeschlechtlichkeit verteidigt. „Das Recht des ungarischen Parlaments, Schulkinder vor der Beschäftigung mit der homosexuellen Problematik gesetzlich zu schützen“, sei „evident und unbezweifelbar“, sagte Przylebski dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Dies habe nichts mit Intoleranz zu tun, geschweige denn mit der Verfolgung Homosexueller oder der Beschränkung ihrer bürgerlichen Rechte. Das Gesetz sei seines Wissens auf die Schulausbildung begrenzt, sein Sinn sei also, Kinder vor einer Frühsexualisierung zu schützen, so Przylebski.

„Agenda Europe“,  „Demo für alle“ und „Besorgte Eltern“ lassen grüßen

Schutz von Kindern, Frühsexualisierung, Elternrechte, Pädophilie-Vergleiche – ein Déjà-vu? Nein, es sind die Klassiker der irreführenden Kampfbegriffe aus dem Fakenews-Propaganda-Arsenal einer weltweit agierenden Allianz aus fundamentalistischen Evangelikalen und Rechtspopulisten. 

Es ist die gleiche Masche, die erst in St. Petersburg und dann in ganz Russland das „Homopropaganda-Gesetz“ mit möglich machte. In den USA hat man sich auf trans* Rechte eingeschossen und einige Erfolge erzielt. Auch in Großbritannien, dort im Schulterschluss mit radikalen und trans*feindlichen Feministinnen (TERFs), ist diesbezüglich schon einiges erreicht worden. Das soll in Deutschland auch gelingen: Aktuell stellt man sich neu auf, nachdem die Ideologie vom angeblichen Familien- und Lebensschutz hierzulande von Hedwig von Beverfoerde, Beatrix von Storch, Birgit Kelle und ihren Besorgten Eltern und der Demo für alle nur mit mäßigem Erfolg durch die Lande tingelte.

In der traurigen Realität gibt es so etwas wie Frühsexualisierung hauptsächlich durch sexuellen Missbrauch von Kindern. Gegen den bzw. als therapeutische Hilfestellung in der Behandlung von hervorgerufenen Traumata sind die vielbeschworenen Passagen im Lehrmaterial moderner Pädagogik entwickelt worden. Ein Schelm, wer Böses denkt, wenn ausgerechnet die Verfechter*innen einer erzkatholischen Sexualmoral am lautesten gegen Aufklärung und Sensibilisierung der Schutzbedüftigsten unserer Gesellschaft aufbegehren. Alles Zufall? Nein.

Agenda Europe heißt das Netzwerk dieser unchristlich menschenrechtsfeindlich agierenden Personen und Organisationen. Und es ist weit in die Reihen von CDU/CSU verzweigt. Damit schließt sich  der Kreis zu einer auffälligen Dissonanz im aktuellen Regenbogenkanon der Bundesregierung, die den Schwur der Kanzlerin zur Verteidigung der Rechte sexueller Minderheiten wie einen Offenbarungseid erscheinen lässt.

Kein Schutz in Artikel 3 Grundgesetz

Die Bigotterie im Verhalten der Bundesregierung zu Minderheitenrechten ist in dieser Woche deutlicher als je zuvor zu beobachten. Gegenüber Ungarn wird Wasser (Diskriminierungsschutz für sexuelle Minderheiten) gepredigt, im Bundestag aber Wein (kein Diskriminierungsschutz für sexuelle Minderheiten) serviert.

Foto: Fraktion Bündnis90/Grüne

„Die Kritik der Bundesregierung an ungarischen Gesetzen, die LSBTIQ diskriminieren, bleiben heuchlerische Phrasen. Solange Union und SPD Diskriminierungsschutz im Grundgesetz blockieren und selbst an nationalen diskriminierenden Regelungen festhalten, ist das eine verlogene Politik.“

Foto: Deutscher Bundestag / Achim Melde

So meldeten sich Ulle Schauws und Sven Lehmann von den Grünen zu Wort und machten, genauso wie FDP-Queerpolitiker Jens Brandenburg auf die Bilanz der letzten Sitzungswoche im Bundestag aufmerksam:

„Während ganz Deutschland über Regenbogenflaggen diskutiert, versenkt die Koalition heute still und heimlich queerpolitische Anträge im Bundestag. Das Grundgesetz sollte endlich vor Diskriminierung wegen der sexuellen Identität schützen. Den Gesetzentwurf haben Union und SPD im Rechtsausschuss von der Tagesordnung abgesetzt.“

so Brandenburg. Das gilt ebenso für den Antrag der Grünen. Die erinnern zusätzlich an das immer noch bestehende, diskriminierende Transsexuellengesetz und die fehlenden Anpassungen beim Abstammungsrecht.

Im September sind Bundestagswahlen ... *AFP/ck

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