Interview • Sven Lehmann: „Hartz IV muss weg!“

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Ist soziale Gerechtigkeit eine Frage von guter Sozial- oder von besserer Menschenrechts- und Minderheitenpolitik? Leidet die Kassiererin bei Aldi unter der staatlichen Durchsetzung des Rechts auf sexuelle und geschlechtliche Identität? Verdient der Pfleger weniger, weil Ahmed bei der Wohnungssuche nicht mehr diskriminiert werden darf? Sven Lehmann sitzt seit vier Jahren für die Grünen im Bundestag und lebt die Antwort auf all diese Fragen von Thierse, Palmer, Wagenknecht und Konsorten politisch vor.

Vor vier Jahren saßen wir zum Interview bei dir im notdürftig schnell eingerichteten Bundestagsbüro und du hast uns von deinen Erwartungen und Zielen erzählt. Wie ist deine ganz persönliche Bilanz?

Ich erinnere mich noch sehr gut. Das war das allererste Interview, nachdem ich in den neuen Bundestag gewählt worden war. Die Überschrift war damals „Grüne, Grindr und Gerechtigkeit“, glaube ich, und das war ja dann auch prägend. (lacht) Das war politisch eine sehr turbulente Legislaturperiode. Zunächst hat es ewig gedauert, bis überhaupt eine Regierung gebildet wurde, dann hatten wir einen Dauerstreit in der Koalition mit Angriffen aus der CSU auf Angela Merkel wegen ihrer Flüchtlingspolitik. Dann kam Corona, was auch das Parlament noch mal komplett neu herausgefordert hat. Politisch also sehr turbulent und persönlich für mich natürlich auch eine riesige Umstellung mit dem Pendeln zwischen Köln und Berlin. Das Gute ist: Ich liebe beide Städte so sehr, dass ich mich wirklich immer in der einen Stadt auf die andere freue. Ich habe mich entschlossen, bei dieser Wahl wieder anzutreten.

Opposition war gut, um Erfahrung zu sammeln, aber ich möchte das, was ich erarbeitet habe, jetzt auch umsetzen.

Ich bin wieder in Köln aufgestellt als Kandidat und auf der NRW-Landesliste mit einem aussichtsreichen Platz.

Sozialpolitik und Queerpolitik hast du als deine Schwerpunkte genannt. In welchem der beiden Felder ist die Legislaturperiode besser gelaufen als erwartet, in welchem schlechter?

Ich habe diese beiden Politikfelder sehr bewusst gewählt, weil ich finde, dass es in der Gesellschaft und in der Politik leider sehr viele Debatten gibt, die abwägen wollen, was wichtiger ist: Menschenrechte oder sozialer Fortschritt. Ich sage: Beides! Und das darf nicht gegeneinander ausgespielt werden. – Tatsächlich hat Corona noch mal in beiden Themenbereichen deutlich gezeigt, dass wir großen politischen Handlungsbedarf haben. Im sozialen Bereich ist deutlich geworden, dass ganze Gruppen in der Gesellschaft nicht ausreichend sozial abgesichert sind. Soloselbstständige, Kulturschaffende, Menschen in der Grundsicherung – die standen vor den Scherben ihrer Existenz oder stehen da immer noch.

Deswegen – und das habe ich auch schon vor vier Jahren gesagt – muss Hartz IV weg.

Wir brauchen eine würdevolle soziale Sicherung, die einen in Zeiten, in denen man selber kein ordentliches Einkommen hat, unterstützt und nicht gängelt und bevormundet. Daran halte ich auch weiter fest. Die Bundesregierung ist auf diesem Ohr leider taub. In der Queerpolitik ist die Bundesregierung ein ziemlicher Ausfall.

Das Einzige, was nach der Öffnung der Ehe passiert ist, wurde entweder von Gerichten erzwungen oder von Petitionen angestoßen. Es gibt kaum eine eigene queere Agenda. Deutschland ist im internationalen Vergleich zurückgefallen, was die Gleichstellung von LSBTTI* angeht. Ich bin in beiden Themengebieten enttäuscht von der Bundesregierung. In der neuen Legislaturperiode möchte ich in beiden Gebieten noch mal neue Impulse anstoßen und dann hoffentlich mit anderen Mehrheiten auch umsetzen.

Was wäre für dich persönlich im neuen Bundestag eine rote Linie in Koalitionsverhandlungen? Artikel 3? Das Transsexuellengesetz? Oder doch lieber die Überwindung des Sanktionssystems bei Hartz IV?

Eine gute Frage. Ich bin kein großer Freund von roten Linien, aber ich bin ein Freund von grünen Linien. Sprich, was muss überschritten werden. Was muss man erreichen, um sagen zu können: Da mache ich als Abgeordneter, da machen wir als Partei mit in einer Regierung. Für meinen Bereich heißt das: Wir müssen wegkommen von Hartz IV. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir haben mit der sogenannten Grünen Garantiesicherung ein Modell entwickelt, mit dem man Schritte gehen kann: höhere Regelsätze, weg von diesen Sanktionen, weg von den sogenannten Bedarfsgemeinschaften – hin zu individuellen Ansprüchen –, besserer Hinzuverdienst und so weiter. Da müssen wir unbedingt weiterkommen.

Und das müssen wir aber natürlich auch im ganzen Bereich der Queerpolitik. Da gibt es kein Entweder-oder. Wir müssen das Transsexuellengesetz überwinden. Man kann ja darüber streiten, was genau an seine Stelle soll, aber das Transsexuellengesetz muss weg. Wir müssen einen bundesweiten Aktionsplan gegen Homo- und Trans*feindlichkeit auflegen. Wir müssen eine moderne Familienpolitik machen und das Abstammungsrecht reformieren. Nur wenn wir bei diesen grünen Linien etwas erreichen, können wir als Grüne eine Politik der sozialen und gesellschaftspolitischen Fortschritte durchsetzen.

Mit 41 Jahren gehörst du der Generation an, die sowohl die analoge Bonner Republik, die Wiedervereinigung und die digitale Transformation bewusst miterlebt hat. Parallel den gesellschaftlichen Wandel vom Schwulenverbotsparagrafen bis zur Ehe für alle, vom Gastarbeiter zum Einwanderer, vom Atomkraftwerk zum Windrad. Wie soll Politik mit denen umgehen, die nicht mehr mitkommen und sich unverstanden fühlen?

Zunächst einmal: Gesellschaft ist immer im Wandel. Es gibt keine Phase in der Geschichte, wo sich Dinge nicht verändert haben. Man denke nur daran, dass bis vor einigen Jahrzehnten homosexuelle Liebe und Handlungen bestraft wurden. Man konnte seinen Job verlieren. Frauen mussten ihren Ehemann um Erlaubnis bitten, um arbeiten zu dürfen. Das ist alles keine 100 oder 200 Jahre her. Gesellschaft ist also immer im Wandel gewesen, und diesen Wandel haben Menschen vorangetrieben. Oft übrigens nicht aus der Politik, sondern aus der Gesellschaft heraus. Und diese Bewegungen des gesellschaftlichen Wandels haben natürlich Gegner gehabt. Es gab immer Menschen, die das falsch fanden. Friedrich Merz beispielsweise, der jetzt prominent antritt, hat 1997 noch dagegen gestimmt, dass Vergewaltigung in der Ehe Straftat wurde. Was ich wichtig finde bei den Debatten um Teilhabe, um Sichtbarkeit, ums Gendern und so weiter:

Ich habe noch nie – und auch die Grünen nicht – jemandem vorgeschrieben, wie er oder sie sprechen soll.

Ich selber spreche möglichst inklusiv und mache inklusive Politik, weil ich finde, dass Menschen gesehen werden sollen, die bisher nicht gesehen werden. Dass sie Sichtbarkeit bekommen in der Politik, in der Sprache, in den Gesetzen und im Bewusstsein. Aber natürlich zwinge ich niemanden, so zu sprechen.

Die Leute, die uns das verbieten wollen, das sind doch die eigentlichen Verbotspolitiker.

Wie beispielsweise auch Leute aus der CDU, die sagen: „Das muss verboten werden.“ Das ist reaktionär. Menschen, die sagen, es gehe ihnen alles zu schnell und wir seien doch verrückt geworden, denen entgegne ich zum Beispiel: Lasst uns doch einfach allen ein würdevolles Leben ermöglichen.

Wolfgang Thierse ...

Ja, der sich als „normal“ bezeichnet. Olaf Scholz, der nach seiner Nominierung zum Kanzlerkandidaten als ersten Tweet schrieb: „Ich mache Politik für die normalen Menschen.“ Das ist eine total gefährliche Spaltung, denn wir Lesben, Schwule, Trans* und Inter sind ja überall. Wir sind an der Aldi-Kasse, wir sind in den Ministerien, den Abteilungsleitungen, wir sind in den Medien, wir sind in den Kfz-Werkstätten.

Foto: Screenshot YouTube / SPD

Wir sind überall, also sind wir das Normal. Aber wir werden nicht so behandelt. Das ist eine ganz gefährliche Spaltung, wieder in normal und unnormal zu trennen.

Das dürfen wir nicht zulassen.

Wie erklärst du dir die Tatsache, dass diese Schere ausgerechnet auch im eher als links oder linksliberal bezeichneten Lager aufgemacht wird?

Es ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten versäumt worden, eine bessere soziale Politik zu machen. Persönliche Brüche in der eigenen Biografie. Jobverlust oder der Wandel im ländlichen Raum. Das ist als persönliches Problem und als Folge des gesellschaftlichen Wandels abgestempelt worden. Gleichzeitig wurden liberale Errungenschaften erreicht: mehr Sichtbarkeit in den Medien und so weiter. Da entsteht, glaube ich, der Eindruck, es würde nur was für Minderheiten gemacht und zu wenig für sozialen Fortschritt.

Das Zweite ist natürlich auch eine berechtigte Kritik! Aber die Kritik richtet sich gegen die nicht vorhandenen sozialen Fortschritte und darf sich nicht gegen Minderheiten richten. Das ist der gefährliche Spalt, und deswegen müssen wir beides machen: soziale Fortschritte und Minderheitenrechte stärken und beides nicht gegeneinander ausspielen.

Wie gefährlich findest du TERFs?

Sehr gefährlich. Und ich akzeptiere auch nicht, dass sie sich Feministinnen nennen. Die Basis von Feminismus ist Selbstbestimmung. Feminismus hat sich immer gegen das Patriarchat gerichtet. Und das Patriarchat fußt auf dem Machtanspruch über Körper, Sexualität und Geschlecht. Deswegen bedeutet Feminismus für mich Selbstbestimmung über Körper, Sexualität und Geschlecht. Genau dieses Selbstbestimmungsrecht sprechen diese trans*feindlichen Gruppen transgeschlechtlichen Menschen ab. Sie sagen, man könne über sein Geschlecht nicht selbst bestimmen.

Das ist nicht nur trans*feindlich, das ist verfassungsfeindlich.

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist eindeutig: Die geschlechtliche Identität eines Menschen ist schützenswert. Wenn diese Gruppen sagen, trans* Frauen seien keine Frauen, sondern Männer mit Frauengefühlen oder in Frauenkleidern, dann ist das zutiefst antifeministisch und trans*feindlich. Ich bin froh, dass zum Beispiel die Netzwerke der Frauenhäuser und Frauenberatungsstellen hier gegenhalten und ganz deutlich sagen, dass auch trans* Frauen selbstverständlich willkommen sind, und sie den Unwahrheiten widersprechen, die durch diese Gruppen verbreitet werden.

Welche Schwerpunkte sollte eine neue Bundesregierung in der Entwicklungs- und Europapolitik hinsichtlich Menschenrechtsfragen setzen? Ist das Motto „Kein Geld für homophobe Staaten“ eine gute Idee? Wir messen als Exportnation durchaus mit unterschiedlichem Maß: Iran tötet Schwule und wird sanktioniert, Saudi Arabien tötet Schwule und ist ein guter Geschäftspartner. Wie geht das zusammen?

Iran wird ja nicht sanktioniert, weil sie dort Schwule töten, sondern wegen des Atomprogramms.

Da zeigt sich übrigens, dass bestimmte Menschenrechtsfragen, gerade auch, was Minderheiten angeht, in den Außenhandelsbeziehungen nicht als so gewichtig wahrgenommen werden wie andere Themen. Das muss viel stärker der Fall sein. So etwas muss Teil der Außenpolitik sein, und jetzt mal sehr konkret auf unsere Nachbarin Polen bezogen: Ich war letztes Jahr mit meiner Kollegin Ulle Schauws zusammen länger vor Ort. Die Aktivist*innen wünschen sich zuerst einmal, und das würde ich auch der künftigen Person im Amt des Außenministers mitgeben, dass die Themen angesprochen werden, dass öffentlich dazu Stellung bezogen wird. Das heißt, dass Menschen, die beispielsweise in Polen oder in Ungarn unter ihren Regimen leiden, sehen, dass das in der Öffentlichkeit wahrgenommen und adressiert wird. Das hat die Bundesregierung nicht gemacht, nicht ausreichend.

Foto: Bündnis90 / Grüne

Der zweite Punkt ist die Frage mit den Geldern. Ich bin absolut dafür, dass beispielsweise europäische Haushaltsmittel an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit gekoppelt werden. Dabei muss darauf geachtet werden, dass es nicht die Menschen trifft, sondern die Regierungen, wenn Gelder nicht fließen.

Der dritte Punkt ist Kontakt: Wir müssen in die Länder fahren und Aktivist*innen vor Ort unterstützen, wir müssen Städtepartnerschaften nutzen. Städte wie Paderborn haben das gemacht. Die sind mit einer Delegation ihres CSD-Vereins nach Polen gefahren, haben sich dort getroffen, haben Flagge gezeigt für Vielfalt, für Menschenrechte. Ich glaube tatsächlich, dass so eine europäische Innenpolitik funktioniert, indem man zum Beispiel den Homofeinden wortwörtlich auf die Pelle rückt. Aus diesem Mix heraus entsteht dann ein Empowerment der Aktivist*innen, was sie auch dringend brauchen.

Geschichte wiederholt sich, sagt der Volksmund. Mit Jens Brandenburg hat die FDP einen queerpolitischen Sprecher, der sogar euch in einigen Themenfeldern vor sich hertreibt. Stichwort Blutspende oder Entschädigung von Soldat*innen. Würdest du gerne mit ihm in einer Regierungskoalition zusammenarbeiten?

Das sehe ich so nicht. Wir Grüne haben bei den wichtigsten queeren Themen in dieser Wahlperiode die Impulse gesetzt, wie beim Abstammungsrecht, Selbstbestimmungsgesetz oder Aktionsplan. Umso enttäuschender, dass sich die FDP bei diesen Initiativen meistens enthalten hat. Richtig ist aber, dass die derzeitige demokratische Opposition – Grüne, FDP und LINKE – wahrscheinlich nur eine Nacht benötigen würden, um sich gemeinsam auf die queeren Themen eines Koalitionsvertrages zu einigen. Wir haben äußerst gut zusammengearbeitet.

Die Blockierer und Bremsklötze für eine fortschrittliche Politik sitzen eindeutig bei der Union.

*Interview: Christian Knuth

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