#Interview • Bettina Jarasch: „Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass die Konzerne von selbst das Richtige tun.“

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Wir erreichen die Spitzenkandidatin der Grünen im Berliner Wahlkampf per Zoom auf den Gängen des Abgeordnetenhauses. Sie ist verspätet, wirkt leicht angespannt, aber gleichzeitig offen und konzentriert. 

„Zwischen CDU und Giffey passt kein Blatt. Es gibt keinen Unterschied. In keinem Themenfeld. In keinem einzigen.“

Bettina Jarasch


Foto: Grüne Berlin

Einleitung 

Es ist der letzte reguläre Sitzungstag der Legislaturperiode, der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) hält seine letzte Rede vor dem Parlament der Bundeshauptstadt. Und es werden hektisch letzte Entscheidungen diskutiert und abgestimmt, bei denen Jarasch auf die Fraktion Müllers nicht mehr zählen kann.

SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey hat ihren Wahlkampf voll auf Deutschland, oder etwas süffisanter Belgien ausgerichtet. Gemeint ist damit das Farbenspiel der Wunschkoalition und die ist für Giffey eine mit FDP und CDU. Projekte wie die Verkehrswende wurden trotz Beschluss durch die amtierende Regierungskoalition im Parlament beerdigt und dankbar entleiht sich Giffey Frames wie „Autoverbot“ und Co des politisch konservativen bis rechten Spektrums, um grüne Konzepte im Springer-Sprech platt zu wahlkämpfen. Fair ist das nicht, aber auch nicht verboten.

„Einen anderen Politikstil“ wollen CDU und FDP nach eigenen Wahlkampfaussagen in Berlin etablieren, und stilisieren die vergangenen Koalitionsdebatten um Konzepte zu Sicherheit, Verkehr und Mieten zu einer Außensicht von Pleiten, Missgunst und Pannen hoch.W enn das, was Giffey, Kai Wegner (CDU) und ihre Kolonnen in den letzten Wochen im Abgeordnetenhaus Koalitionspartnern und auf den Straßen vor Wähler*innen vorturnen, dieser neue Stil sein soll, dann kann mensch Bettina Jarasch nur dringend empfehlen, die Samthandschuhe auszuziehen und die Ellenbogen raus zu holen. *ck

Foto: Grüne Berlin

Schön, dass Sie sich trotz des Stresses noch für ein Interview Zeit nehmen ...

Bitte entschuldigen Sie die Verspätung. Hier ist heute viel los. Und nur eine Vorwarnung noch ganz kurz: Ich bin im Foyer des Abgeordnetenhaus, weil es eine namentliche Abstimmung gibt, bei der es übrigens auch um ein Vielfaltsthema geht. Und die ist knapp, weil wir uns der Mehrheit dank unseres Koalitionspartners SPD nicht ganz sicher sein können. Die sprengen ja gerade mehrere Gesetze. Deswegen muss ich noch mal eventuell kurz rein und bitte dann jetzt schon noch mal um Entschuldigung für die Unterbrechung. Ich komme dann sofort zurück, ich muss nur meine Stimme abgeben. ...

Eine schöne Steilvorlage in das Thema, was mir und vielen Leser*innen auf den Nägeln brennt. Wie reagieren Sie eigentlich darauf, dass Frau Giffey bzw. die SPD-Fraktion gerade einen aggressiven Kurs fahren und viele r2g-Projekte auf Eis legen oder ganz beerdigen? Worum geht es bei der Abstimmung, zu der Sie müssen?

Bei dieser Abstimmung geht es um das Neutralitätsgesetz. Es ist ein Antrag der CDU, die ja auf gar keinen Fall will, dass Frauen mit Kopftuch in Schulen unterrichten dürfen. Es ist dabei aber höchstrichterlich geklärt, dass man nicht pauschal Frauen mit Kopftuch vom öffentlichen Dienst ausschließen darf. Dazu gab es auch mit der SPD angestrengte Diskussionen in der Koalition. Aber zumindest ist noch gängig, dass wir als Regierungskoalition Anträge der Opposition ablehnen. Ich hoffe mal, das hält bis zum Schluss. Bisher wurden ja nur unsere eigenen Gesetze in letzter Sekunde quasi torpediert, obwohl sie auch mit den SPD-Kollegen schon vereinbart waren. Aber das wäre jetzt natürlich noch eine Steigerung. Ich glaube nicht, dass es passiert, ich will aber lieber meine Stimme abgeben. Sicherheitshalber.

In einer namentlichen Abstimmung. Das bedeutet, nachher weiß auch jede*r, wer wie abgestimmt hat.

Genau. Ich glaube übrigens, dass das Alles jetzt gerade im Wahlkampf auch wirklich noch mal bei ganz vielen Menschen einen Aha-Effekt auslöst. Ich glaube, viele Wähler*innen und Bürger*innen hatten ursprünglich gedacht: „Na ja, irgendwie werden die zusammen weitermachen, in welcher Zusammensetzung auch immer“. Jetzt wird immer deutlicher, dass das nicht gewährleistet ist. Um es mal zuzuspitzen ... Moment. Ich muss hier mal ein paar Meter weggehen. Der Herr Saleh hört gerade mit.

Frau Jarasch steht mit dem Laptop in der Hand auf und eilt in eine andere Ecke des Foyes im Abgeordnetenhaus. A. d. R.

Freund bzw. Feind hört mit!

(lacht) Das soll er nicht. Jetzt noch mal einen Schritt zurück. Ich glaube, die meisten Leute dachten, es geht weiter in irgendeiner Form mit einer progressiven Koalition. Und jetzt wird immer mehr Leuten deutlich, dass es nicht so ist. Und ich kann bestätigen, die Zeichen sind überdeutlich. Ich sitze ja nun in genügend Podiumsdiskussionen mit den Spitzenkandidierenden aller Parteien und es passt kein Blatt zwischen CDU und Giffey. Es gibt keinen Unterschied in keinem Themenfeld.­ In keinem einzigen! Dazu kommt die Tatsache, dass jetzt viele Gesetze die wir noch in der Pipeline hatten für mehr Klimaschutz und für die Verkehrswende gestoppt worden sind. Das waren nach langen Prozessen innerhalb der Koalition und im Senat abgestimmte Gesetzesvorhaben. ­Das heißt, sie wurden aus politischen Gründen gestoppt, nicht aus fachlichen.

Also krasse Wahlkampftaktik per Abgrenzung ...

Ja. Das macht umso deutlicher, dass es bei der Wahl tatsächlich um die Frage geht: Packen wir die nötigen Veränderungen an – dafür stehe ich –, oder bleiben wir stehen und geht’s sogar zurück. Gerade für Antidiskriminierungs- und Vielfaltsthemen, auch queerpolitische Themen, wäre es glaube ich fatal. Weil da nicht nur Stillstand, sondern wirklich Rückentwicklung drohen würde. Das Landesantidiskriminierungsgesetz beispielsweise, mit dem unser grüner Justizsenator Dirk Behrendt Rechtsgeschichte geschrieben hat, war schon in der Entstehung nur ganz mühsam gegen einen Teil der SPD durchzukämpfen und die CDU agitiert seit Monaten dagegen. Meine Vermutung ist, dass das eines der ersten Gesetze wäre, das wieder zurückgenommen würde.

Die Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt” (IGSV), die vor über zehn Jahren eingeführt wurde, hatte unter Rot-Schwarz auch einen Dornröschenschlaf, aus dem sie durch Rot-Rot-Grün wachgeküsst wurde. Die ist inzwischen Vorbild für unglaublich viele ähnliche Aktionspläne in anderen Bundesländern. Nun hat Ihre Fraktion dazu eine Auswertung machen lassen im letzten Jahr, bei der aufgefallen ist, dass es vor allem in den Bezirken außerhalb des S-Bahn-Rings Mängel bei der Umsetzung gibt. ...

Also zunächst ein Eindruck aus den letzten Wochen. Ich war beim Christopher Street Day in Marzahn-Hellersdorf. Und auch wenn das mit dem großen CSD in der Masse nicht vergleichbar ist, war ich beeindruckt davon, wie viele queere und bunte Menschen es auch natürlich in Marzahn-Hellersdorf gibt. Ich bin total froh, hingegangen zu sein. Weil dort hat man wirklich das Gefühl, dass es auf jeden Menschen ankommt, der sich zeigt, der auch sichtbar ist. Und die dann auch sichtbar Freude zeigen für Unterstützung, dass zum Beispiel ich da war. Denn dass Menschen dort in dieser Zahl auch stolz und ohne Angst ihren Umzug machen können, das ist für sie eher die Ausnahme und nicht die Regel. Queer zu sein und das auch zu zeigen ist einfacher in Tempelhof-Schöneberg und Kreuzberg. Was ganz anderes als in Marzahn-Hellersdorf oder auch in Pankow-Buch beispielsweise, mein bisheriger Wahlkreis, der auch deutlich außerhalb des S-Bahnrings liegt.

Es ist nämlich ganz richtig: In den Bezirken wird nicht gleich engagiert queere Politik gemacht. Das liegt zum Teil an den Zusammensetzungen und an den Interessen der BVV-Mitglieder. Wir haben schon versucht nachzusteuern, indem wir von den Fördertöpfen jetzt ganz verstärkt auch in die Bezirke Gelder gegeben haben. Die Frage ist immer noch, was machen die damit. Lassen sie es liegen oder machen sie was draus?

Haben Sie denn ein Beispiel?

Es ist ja auch eine Frage, wer sich da engagiert. Bei uns beobachte ich, dass es viele junge Queers gibt, die jetzt ganz stark in die Bezirksverordnetenversammlungen drängen und zwar auch in den sogenannten Außenbezirken. Das finde ich ganz toll, weil dadurch ändert sich auch in den Bezirken etwas. Ich kenne zum Beispiel eine trans* Frau, die in Buch wohnt und mit der ich dort unterwegs war. Sie hat mir erzählt, für sie hat es gar keine Priorität, dass jetzt ein Schutzraum oder Treffpunkt in Buch aufmacht, weil vermutlich eh nur eine Handvoll anderer geben wird, mit denen sie sich da treffen würde. Für sie ist es viel wichtiger, dass die Verkehrsanbindung in die Stadtmitte oder zumindest bis Prenzlauer Berg auch nachts so gut ist, dass sie in die Klubs und Bars gehen kann, wo sie ihre Leute trifft. Das ist, glaube ich, ein wichtiger Punkt.

Frau Jarasch unterbricht den Zoom-Talk ein paar Minuten, um im Sitzungssaal des Abgeordnetenhauses an der namentlichen Abstimmung über den Oppositionsantrag zum Berliner Neutralitätsgesetz teilzunehmen. A. d. R.

Als Sie bei der Abstimmung waren eben, bemerkte ein Mitarbeiter, dass „Queerschnittsthema“ doch ein super Slogan wäre. ...

*lacht* Stimmt! Mit Projekten wie der Verkehrswende betreiben wir, wie das Beispiel zeigt, ja auch Queerpolitik. Indem wir dafür sorgen, dass Menschen aus den äußeren Bezirken die vorhandene queere Infrastruktur besser und sicherer erreichen und nutzen können. Wir nennen das Queermainstreaming – also in allen Themengebieten auch queere Anliegen und Perspektiven mitdenken.

Foto: Grüne Berlin

Wenn wir den Gedanken von Queerschnittsthemen, oder Queermainstreaming weiter spinnen, kommen wir auch zu einer Frage, die ich ganz direkt stellen möchte. Sie betrifft den Umstand, dass besonders ältere, „alleinstehende“ Frauen und damit proportional viele lesbische Frauen und trans* Personen von Altersarmut und Wohnungsnot betroffen sind. Man liest über ihre Meinung zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen enteignen!“ divergente Interpretationen. Also ganz direkt: Wie stehen Sie zum Volksentscheid und was planen Sie, nach dem 26. September diesbezüglich?

Erst mal: mein Vorschlag ist der einzig konkrete, der auf dem Tisch liegt. Ich schlage einen Pakt vor, den Mietenschutzschirm. Ich möchte, dass die Unternehmen oder Genossenschaften, die sich zu mieterfreundlichen Bedingungen wie einen Mietenstopp oder ein Umwandlungsverbot rechtlich verbindlich verpflichten, im Gegenzug Unterstützungen bekommen wie landeseigene Flächen oder Förderung. Denn für mehr bezahlbaren Wohnraum müssen endlich die Richtigen mehr bauen. Und: Das ist dann auch ein rechtsicherer Weg, weil es jeweils ein Vertrag ist, den beide unterschrieben haben, und der nicht vor Gericht angefochten werden kann. Wir wissen alle, dass ein Enteignungsgesetz vor Gericht landen wird und es viele Jahre der Unsicherheit geben wird, ob das tatsächlich klappt. Ich möchte diese Zeit nicht ungenutzt lassen, sondern direkt anfangen den Mietenschutzschirm umzusetzen. Und so das Ziel des Volksentscheids – einen gemeinwohlorientierten Wohnungsmarkt – erreichen. Bis dahin bleibt das Instrument auf dem Tisch ­ auch als Druckmittel. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass die Konzerne von selbst das Richtige tun. Ohne Druck und harte Instrumente bleibt die Politik zu schwach. Und deshalb werde ich auch beim Volksentscheid mit „Ja“ stimmen.

Letzte Frage: Lieber Giffey oder Lederer?

(lacht) Ich hoffe doch: Franziska Giffey und Klaus Lederer gemeinsam als Senator*innen mit mir als Regierende Bürgermeisterin.

*Interview: Christian Knuth

bettina-jarasch.de

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