Kevin Kühnert: „Queerpolitik bedeutet Gerechtigkeitsfragen für Millionen von Menschen“

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Kevin Kühnert, stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD, brachte als Vorsitzender der Jusos mit seiner Ablehnung einer Koalition mit der Union die SPD und ein bisschen auch die Bundesrepublik ins Wanken. Warum er im September als Direktkandidat des größten Regenbogenkiezes der Republik bei der Bundestagswahl antritt, wo er im unterstellten Spannungsfeld zwischen Identitätspolitik und der Frage nach sozialer Gerechtigkeit steht und was er zu Extremismus und queerfeindlicher Gewalt zu sagen hat, erzählt er uns im ausführlichen Gespräch. 

Bundesweit so richtig aufwärts mit der Bekanntheit ging es für dich als GroKo-Kritiker. Wie ist deine Bilanz der Legislaturperiode?

Meine Bewertung, ob es sinnvoll war, diese Koalition zu machen, hat sich nicht geändert. Auch nicht dreieinhalb Jahre später. Es gab damals Argumente dafür und dagegen. Ich würde sagen, queerpolitische Argumente gab es schon damals nicht dafür. Das hat auch niemand von denen behauptet, die für eine Große Koalition gewesen sind. Das ist einfach die alte Leier:

Hast du Konservative mit in der Regierung, dann bist du gesellschaftspolitisch immer fünf Gänge zu langsam.

Es ist auch egal, ob es die SPD oder die Grünen trifft. Mit CDU und CSU geht es nicht um das Aushandeln „ihr kriegt was, wir kriegen was“, sondern darum, dass die grundsätzlich ideologische Probleme mit dem ganzen Themenfeld haben. Ich finde es wichtig, das noch mal rauszuarbeiten.

Es geht nicht um eine Systemfrage des Steuersystems oder des Rentensystems, sondern wirklich um Grundüberzeugungen und menschenrechtliche Fragen.

Wie ist die Bilanz zu bewerten? Gucken wir kurz auf die Haben-Seite, das geht ja relativ fix, muss man sagen. Was sicherlich gut ist, sind die Fortschritte beim Thema Konversionstherapien. Es ist sehr gut, dass das für Minderjährige verboten ist. Darüber hinaus ist es zumindest deutlich erschwert worden. Es gab ein gemeinsames Interesse auch bei den Koalitionspartnern. Viel mehr war mit der Union nicht möglich.

Das Transsexuellengesetz war jetzt das letzte Beispiel, was noch mal ganz prominent gescheitert ist ...

Ja. Ich will auch nicht irgendwas schönreden. Ich will nur darauf hinweisen, dass es nicht so ist, dass darüber nicht drei Jahre lang verhandelt wurde. Was jetzt sehr stark in der Öffentlichkeit gewesen ist, ist, dass die Koalition gegen die Anträge der Opposition abgestimmt hat, denn so stimmt man in einer Koalition nun mal ab, wenn man uneinig ist. So wurde es vereinbart (im Koalitionsvertrag, Anm. d. Red.).

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die SPD einen faulen Kompromiss mit CDU/CSU ausgeschlagen hat. Und zwar weil wir gesagt haben, dass alles, was weiterhin eine Pathologisierung bedeutet – also fachärztliche Begutachtungen, für die ich selber auch noch blechen muss am Ende –, all das kommt für uns nicht infrage. Auch nicht im Rahmen eines Kompromisses.

In der Annahme, dass, wenn man so eine halbgare Lösung einmal beschließt, das wieder 20 Jahre so bestehen bleibt. Dann lassen wir das Thema jetzt lieber für die nächste Bundesregierung, in der Hoffnung, dass wir klare fortschrittliche Mehrheiten haben, mit denen wir ein wirkliches Selbstbestimmungsrecht durchsetzen können. Das muss das Ziel sein und da stehen wir auch klar dahinter.

Der Vorwahlkampf startete zu Beginn des Jahres mit den Kampfbegriffen „normal“ und „Identitätspolitik“. Erst der Disput um eine Veranstaltung der SPD-Grundwertekommission mit begleitendem Mediengewitter von Wolfgang Thierse, und später hat auch Olaf Scholz getwittert, er wolle „Kanzler für normale Leute“ sein, die AFD fordert „Deutschland, aber normal“. Ich hätte mir nicht denken können, je wieder darüber streiten zu müssen, „normal“ zu sein. Der Streit war heftig, oder? War er hilfreich?

Innenwahrnehmung und Außenwahrnehmung gehen da mitunter ganz schön auseinander. Das meine ich gar nicht als Kritik. Ich erlebe jetzt seit zwei, drei Monaten, dass Leute auf mich zukommen und mir erklären wollen, in der SPD und auch anderswo tobe eine blutrünstige Auseinandersetzung über Identitätspolitik. Das ist aber einfach nicht so. Ganz bestimmt jedenfalls weder in unseren Präsidiums- noch in unseren Vorstandssitzungen.

Ich habe mich mit Wolfgang Thierse und mit Gesine Schwan jeweils einmal ausgesprochen, weil das mein Anspruch an eine gute Diskussion ist, sich bei Problemen und Kritik erst einmal persönlich bei den Leuten zu melden, bevor man gegebenenfalls etwas dazu öffentlich äußert. Das hat etwas mit Stil und Anstand zu tun, und da war vom Ablauf her auch eine Entschuldigung meinerseits fällig. Ansonsten kann man wunderbar über die Gewichtung von Themen in einem Wahlkampf oder im Auftritt einer Partei streiten. Das finde ich auch erst einmal noch gar nicht anrüchig und das ist auch nicht homophob oder transphob, wenn man findet, dass die Art, wie eine Partei diese und jene Position öffentlich darstellt, dass es da unterschiedliche Ebenen gibt. Das sind ganz übliche strategische Auseinandersetzungen einer Partei.

Was mich aber immer aufschreckt, sind Begrifflichkeiten, wie du sie gerade genannt hast. Wenn auf eine ungelenke, manchmal aber auch gewollte Art Begriffe wieder in die Diskussion kommen. „Normal“ oder Ähnliches. „Skurrile Minderheiten“, wie sie Sarah Wagenknecht dann begrifflich geschaffen hat. Begriffe, die einen klaren ausgrenzenden Charakter haben.

Wo ein Einschleimen – ich kann das nicht anders sagen – bei Teilen der Wählerinnen und Wähler stattfinden soll. Auf Kosten einer anderen Gruppe von Menschen.

Wenn ich dann also einen gemeinsamen Punchingball raussuche, auf den man draufhauen kann: „Haha, komm, wir lachen zusammen.“ So ein bisschen wie früher auf den Turnbeutelvergesser in der Schule. Man sucht sich den aus, arbeitet sich an ihm ab, um selber Stärke innerhalb der sozialen Gruppe zu entwickeln.

So etwas regt mich auf und ekelt mich auch geradezu an, wenn es um Fragen von sozialer Ungleichheit und Ungerechtigkeit geht.

Es kann niemand mit offenen Augen absprechen, dass wir in puncto sexuelle und geschlechtliche Vielfalt Ungleichheiten rechtlicher wie auch gesellschaftlicher Art haben. Man kann darüber reden, wie weit vorne in einem Wahlprogramm das Thema auftauchen soll, wie viel Raum es einnehmen soll. Da geht es um das Wie, aber es darf nicht mehr um das Ob gehen.

Was sich als links verstehende Menschen endlich mal begreifen sollten, ist, wer sich für die Rechte von sagen wir mal trans* Personen einsetzt, hat sich damit nicht gegen einen höheren Mindestlohn oder ein gerechtes Rentensystem eingesetzt.

Man kann beides gleichzeitig und noch vieles andere mehr machen. Meine Aufmerksamkeitsspanne reicht jedenfalls für mehr als ein Thema. Und die meisten Menschen, die ich kenne, schaffen es auch, mehreres gleichzeitig zu diskutieren. Und es hängt ja auch kausal zusammen. Wenn man einer Minderheit angehört, es muss noch nicht mal eine sexuelle oder geschlechtliche sein, dann hat man das statistisch eindeutig nachgewiesene Risiko, viel eher in sozial schwächere Schichten abzusinken, viel mehr Probleme zu haben, einen Job zu bekommen oder ihn zu behalten. Beim Wohnen ist es das gleiche.

Im Bereich Rassismus auch. Da würde ich gerne noch mal auf eine Aussage von dir zurückkommen, die ich damals einfach nicht nachvollziehen konnte. Bezüglich der Homophobie des Islamismus und der Reaktion der Linken darauf ...

Mir ging es gar nicht nur um die Schnittstelle von Islamismus und Homophobie. Das ist ein Beispiel, wie es ja rund um den Mord in Dresden diskutiert wurde. In meinem Beitrag im Spiegel ging es um den Mord an Samuel Paty, dem französischen Lehrer, der Mohammed-Karikaturen im Unterricht gezeigt hat. Ich kenne auch genügend Gruppen, Leute und Medien aus dem links-fortschrittlichen oder wie-auch-immer Spektrum, die sich natürlich mit diesen Fragen beschäftigen, ja. Meine Unterstellung ist nicht, dass das niemand tut oder dass es ein Schweigekartell geben würde. Aber ich finde, man merkt bei vielen von uns – und auch bei mir selber merke ich das – eine Art Tapsigkeit, wenn es einfach nur um die Begrifflichkeiten geht. Darum, das Kind beim Namen zu nennen.

Da muss ich jetzt gar nicht über Islamismus reden, sondern ich finde, man kann autoritäre faschistoide Weltbilder einfach als solche benennen.

Und die können bei Neonazi-Gruppen wie auch bei den Muslimbrüdern auftreten. Das muss unterschiedlich bekämpft werden, weil es über andere Orte und Kontexte kultiviert und weitergegeben oder in familiären Zusammenhängen tradiert wird. Soziologisch ist mir klar, dass das nicht von denselben Sozialarbeiter*innen und Politikwissenschaftler*innen bekämpft werden kann. Aber in seiner Auswirkung auf die betroffenen Gruppen macht es überhaupt keinen Unterschied, ob meine individuellen Freiheiten und Rechte von einer islamistischen Terrororganisation oder von einer kartoffeldeutschen Neonazi-Gruppe eingeschränkt werden.

Das finde ich einfach nur wichtig, dass wir da in der Qualifizierung solcher Angriffe, solcher Mordanschläge, was auch immer, dass wir da

Scheiße nicht nach Geruch sortieren, um es mal auf gut Deutsch zu sagen.

Dresden ist ein „gutes“ Beispiel: Wer nichts gemacht hat, war wieder mal die Bundesregierung, war die Union. Es gab keine Aussage der Kanzlerin, des Innenministers. Es hat furchtbar lange gedauert, bis die Staatsanwaltschaft überhaupt anerkannt hat, dass Homophobie das Motiv sein könnte. Man wolle sich zur sexuellen Orientierung der Opfer nicht äußern. Privatsache. Letztlich ist es das im Urteil genannte Hauptmotiv geworden. 

Auf jeden Fall. Wir brauchen, was die Statistiken im Bereich der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit angeht, eine deutlich trennschärfere Erfassung. Es ist ein sensibler Bereich, weil wir gleichzeitig aufpassen müssen, dass wir hier nicht zwangsouten. Aber wenn jemand, der selbst zum Opfer geworden ist und ganz klar sagt, dass die Tat auf dieses Merkmal zurückzuführen ist, dass man das als homophob oder transphob fassen kann, dann ist das spätestens der Moment, in dem das einbezogen werden sollte.

Das heißt übrigens im Gegenzug auch, dass wir uns von antiquierten Begrifflichkeiten wie „fremdenfeindlich“ oder Ähnlichem, die völlig unqualifiziert und auch unwissenschaftlich sind, dass wir uns von denen verabschieden müssen in diesen Statistiken. Schlimm genug, dass die Verbrechen stattfinden. Aber das Mindeste ist ja, dass wir versuchen, daraus zu lernen, welche Häufungen treten auf, an welchen Orten. Weil man daraus Lehren ziehen kann, was in der Bildungsarbeit, in der Präventionsarbeit und so weiter stattfinden muss. Dafür muss ich aber ein präzises Lagebild haben, mit welchen Einstellungsmustern ich es eigentlich zu tun habe, und die Statistiken, die wir haben, die geben das im Moment nicht immer her.

Ich habe übrigens ja neben den Kriminalstatistiken auch noch die Möglichkeit, anonymisierte Register zu schaffen. Wir arbeiten hier in Berlin beispielsweise in den Bezirken mit solchen Registerstellen. Das heißt, dort kann man Vorfälle auch dann melden, wenn man – warum auch immer – sich nicht an die Polizei wendet. Es gibt zum Beispiel Menschen, die aus rassistischen Motiven angegriffen werden, die sich nicht bei der Polizei melden, weil sie einen ungeklärten Aufenthaltsstatus haben und nicht zu einer Behörde gehen wollen. Die können das aber anonym einreichen, das wird erfasst und wir sehen trotzdem, mit welchem Ausmaß an Problem wir es zu tun haben. Ich glaube, darum geht’s im Bereich homophober und transphober Gewalt auch.

Das ist eine schöne Überleitung zum nächsten Thema, weil in deinem Wahlkreis, in dem du jetzt für den Bundestag kandidierst, maneo sitzt. Ein Antigewaltprojekt, das genau auf diese Art arbeitet, also das anonyme Meldungen queerfeindlicher Übergriffe entgegennimmt und statistisch erfasst. Wäre so etwas deutschlandweit eins deiner Ziele im Bundestag? Was möchtest du erreichen, warum willst du überhaupt dahin?

Na ja. Ich bin, solange ich denken kann, ein politischer Mensch, und wenn du anfängst dich zu engagieren, dann merkst du, dass die Probleme und Ungerechtigkeiten bzw. deren Lösungsmöglichkeiten immer weiter auf höhere Ebenen wandern.

Wenn man sich nicht mit dem Status quo zufriedengeben will, wie ich, und dann andere auf diesen Ebenen auch leidenschaftlich kritisiert für die Art, wie sie Politik machen, für die Entscheidung, die sie treffen, dann muss man sich konsequenterweise irgendwann die Frage stellen: Willst du das dann nicht selber machen? Das ist so bei meinem Entschluss gewesen, in eine Partei zu gehen und Kommunalpolitik zu machen, und jetzt, nachdem ich ein paar Jahre auch ein Gesicht in der Bundespolitik bin, ist es so beim Entschluss, für den Bundestag zu kandidieren. Bei mir zu Hause in Berlin-Tempelhof-Schöneberg. Das ist mein Geburtsbezirk und es ist doch ein schöner Zufall, als schwuler Mann in Schöneberg zu leben, zu Hause zu sein und für diesen Bezirk Politik machen zu können. 

Übrigens sieht man an meinem Wahlkreis letztlich auch, wie absurd diese Identitätspolitik-Debatte ist.

Es geht eben nicht um irgendeine obskure Minderheit, sondern, wenn ich in Schöneberg unterwegs bin, dann geht es an manchen Straßenecken am Nollendorfplatz, in den ganzen Seitenstraßen, da geht es um die dominierende Kiezkultur.

Deswegen ist das nicht ein Thema unter „ferner liefen“. Wer Abgeordneter für Tempelhof-Schöneberg sein will, der vertritt den größten Regenbogenkiez, den wir in Deutschland haben, und daraus leitet sich eine Verantwortung ab, das als Themenfeld zu begreifen, in dem es für Millionen Menschen in Deutschland um Gerechtigkeitsfragen geht: Um Selbstbestimmungsrechte, um Blutspendefragen, die noch nicht anständig beantwortet sind. Um Gewaltprävention, Aufklärungsprojekte, um die Rechte von Regenbogenfamilien und so weiter und so fort. Ohne das im Blick zu haben, könnte ich nicht Abgeordneter in diesem Wahlkreis sein. Da würde ich den Job völlig falsch verstehen.

Solltest du gewählt werden, und würde er wieder gewählt werden, würdest du dich mit Karl-Heinz Brunner um den Job als Fraktionssprecher für Queerpolitik kabbeln?

Dass ich mich um dieses Thema mitkümmere und mich verantwortlich fühle, und zwar nicht nur, wenn Pride-Saison ist im Sommer, das kann ich garantieren. Wenn Karl-Heinz wieder im Bundestag ist, spricht alles dafür, dass er die Aufgabe auch weitermacht. Er macht das sehr umsichtig und wir sind zufällig gerade heute um 14 Uhr zu unserer monatlichen Rücksprache verabredet. Also wir sind da wirklich jetzt schon im engen Austausch. Aber davon ab, wenn wir beide drin sein sollten: Wir sind nicht die einzigen Queers in der SPD-Bundestagsfraktion. Es gibt einige mehr und es wird auch von den Neuen einige mehr geben. Insofern mache ich mir keine Sorgen, dass es da zu wenig Kompetenz in der SPD-Fraktion geben würde. Ganz im Gegenteil, sie wird sehr bunt.

Theoretische Frage, denn Abgeordnete könnten theoretisch ein Minister*innenamt bekommen. Welches wäre dein Wunschministerium?

Ich will jetzt keine Politiker-Antwort geben, darum mache ich einen Disclaimer vorneweg. (lacht) Also: Ich strebe nach der Wahl kein Ministeramt an. Definitiv nicht. Aber ich will trotzdem antworten, weil aus der Antwort kann man ja inhaltlich was ersehen. Und ich bin da in der Antwort auch wirklich ganz klassischer Sozialdemokrat.

Wenn ich es aussuchen müsste, würde ich mich immer für ein Amt als Arbeits- und Sozialminister entscheiden. Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass in der Gesellschaft, so wie wir sie heute erleben, immer noch ganz vieles über Arbeit und über das Einkommen aus Arbeit definiert ist und das auch den Status von Menschen beschreibt – ob wir das gut oder schlecht finden, dahingestellt. Aber wir hatten es ja vorhin schon erwähnt: Persönliche Merkmale, die auch Diskriminierungsmerkmale sind, haben in aller Regel lineare Auswirkung auf Karrierewege, auf Einkommensverhältnisse. Das heißt, es hat auch Auswirkungen auf Renteneinkünfte, spätere Altersarmut und so weiter.

Also die Frage, wie Teilhabe am Arbeitsmarkt und soziale Absicherung aussieht, ist und bleibt die Grundlage für gesellschaftliche Teilhabe bei uns. Und deswegen ist das für einen Sozi immer der Dreh- und Angelpunkt und eben gerade kein Widerspruch zur Teilhabefrage von zum Beispiel Minderheiten.

*Interview: Christian Knuth

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