Hintergrund 💊 HIV-Medikamente gegen Coronaviren

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Sowohl Thailand, als auch China setzen in der Behandlung des neuartigen Coronavirus auf zwei Medikamente aus der HIV-Therapie. Gerüchte über eine Verwandtschaft der beiden Viren sind ebenso haltlos wie Vermutungen, die PrEP verhindere eine Infektion.

In Thailand ist laut Medienberichten bei einer Patientin 48 Stunden nach der Gabe einer Mixtur aus zwei HIV-Medikamenten und einem Grippemedikament der Coronavirus 2019-nCoV vollständig eliminiert worden. Das forschende Pharmaunternehmen AbbVie bestätigte zudem, dass die chinesischen Gesundheitsbehörden das HIV-Medikament Kaletra (auch Aluvia) in großen Mengen bestellt habe (Quelle). Kaletra ist ein Kombinationspräparat aus den beiden Wirkstoffen Lopinavir und Ritonavir und seit 2001 auch in der EU zur Behandlung von HIV-Positiven zugelassen. 

Warum wirkt ein HIV-Medikament gegen Coronaviren?

Lopinavir und Ritonavir sind Wirkstoffe aus der Klasse der sogenannten Proteasehemmer.

Protease (eigentlich Peptidasen) sind Enzyme, die Proteine oder Peptide spalten. Diese proteolytischen Enzyme werden von RNA-Viren (Tollwut, Grippe, SARS, Influenza) benötigt, um den Vermehrungsprozess im Körper in Gang zu setzen. Das eigentliche Virus bildet große Proteinmoleküle, die dann durch die Protease-Enzyme in Einzelteile zerlegt werden. Erst diese kleinen RNA-Moleküle können beim RNA-Virus durch eigene virale Polymerase vermehrt werden. 

HIV gehört zur Klasse der Retroviren. Diese „schmuggeln" die von der Protease zerlegten RNA-Sequenzen in die DNA-Information einer Wirtszelle, um von dieser und ihren körpereigenen Polymerasen reproduziert zu werden. 

Obwohl also beide Virenarten völlig unterschiedlich sind und eine Symbiose oder Vermischung von zwei Arten beider Klassen höchst unwahrscheinlich, funktioniert der Beginn ihrer Vermehrung im Körper des Wirtes auf sehr ähnliche Weise. Die erprobten Proteasehemmer tun genau, was der Name vermuten lässt: Sie hemmen die Arbeit der Protease, der Reproduktionszyklus des Virus wird vor dem eigentlich Beginn verhindert. Und das eben beim HI-Virus, als auch bei einigen Coronaviren, wenn die zuständigen Protease-Enzyme eine ähnliche Struktur aufweisen. 

Hilft die PrEP gegen eine Ansteckung mit dem Coronavirus?

Nein. Die in der PrEP eingesetzten Wirkstoffe Emtricitabin und Tenofovirdisoproxil sind sogenannte Reverse-Transkriptase-Hemmer, die bei einem späteren Prozess der Vermehrung von Retroviren ansetzen. Sie haben keinen Effekt auf die Protease und bieten somit keinen Schutz vor RNA-Viren. HIV-Positive, die eine Therapie mit Lopinavir und Ritonavir einnehmen, könnten allerdings theoretisch einen gewissen Schutz vor einer Ansteckung mit einem RNA-Virus wie 2019-nCoV haben. Theoretisch, denn die Wirksamkeit ist bisher nur in Kombination mit einem Grippemittel und bisher auch nur in kleinen Studien erwähnt (Quelle).

Wie kamen Thailand und China so schnell auf die Idee?

Schon 2002/2003, als das Coronavirus SARS-CoV weltweit für Panik sorgte, kamen Forscher auf die Idee, Proteasehemmer aus der HIV-Therapie gegen RNA-Viren einzusetzen. Unter anderem einem Lübecker Forscherteam um Rolf Hilgenfeld ist es zu verdanken, dass wir überhaupt detaillierte Informationen über diese Virenklasse haben, denn SARS-CoV und andere Coronaviren wurden als ungefährlich für Menschen eingestuft. Als SARS-CoV dann doch auf den Menschen übertragen wurde, waren die Lübecker Forscher anderen voraus, da sie schon Modelle des Virus vorliegen hatten und an einem Wirkstoff arbeiteten. Auch beim im Jahr 2012 ausgebrochenen MERS-CoV wurde die Kombination erfolgreich getestet (Quelle).

In einem aktuellen Interview mit der Zeit erklärt Hilgenfeld auch, warum es trotz SARS-CoV und seiner bahnbrechenden Forschung immer noch keine speziellen Medikamente gegen Coronaviren gibt, obwohl sein Team eines entwickelt: 

„Sie befindet sich noch in experimentellem Zustand. Damit man sie einsetzen kann, muss sie erst noch in jahrelanger Forschung zu einem Medikament entwickelt werden. Als wir damals weitere Tests durchführen wollten, war der Sars-Ausbruch vorbei und wir hatten keine Patienten, an denen wir die Substanz testen konnten. Das ist auch ein Grundproblem bei der gesamten Forschung auf diesem Gebiet. ... Aus diesem Grund findet man auch schwer eine Finanzierung. Und die Pharmaindustrie interessiert sich nicht für Coronaviren. Selbst die 8.000 Sars-Fälle damals sind für die Unternehmen kein lukrativer Markt. Auch deshalb haben wir jetzt kein wirksames Medikament gegen das neue Virus.“

Holger Hilgenfeld, Zeit Online

Hilgenfeld rät im Interview dazu, die beiden HIV-Medikamente und Remdesivir einzusetzen, da diese gut am Menschen erprobt und verhältnismäßig sicher seien. 


Update 10. März 2020

Der Artikel wurde mit weiteren Quellenangaben versehen, ein Absatz über die theoretische Immunisierung unter HIV-Therapie mit Lopinavir und Ritonavir wurde gekürzt, um Spekulationen zu vermeiden. 

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