Mit Cannabis zurück in die Zukunft

Cannabis erlebt gerade weltweit eine Renaissance als Arzneimittel, Nutzpflanze, Nahrungsmittel, Superfood, Genussmittel, Baustoff und Rohstoff für die Papier- und Stoffherstellung. Gerade in der Medizin ist der Einsatz von Cannabis in so mancher Hinsicht tatsächlich zukunftsweisend!

Aufgrund seiner Komplexität als pflanzliches Arzneimittel macht Cannabis ein grundlegendes Umdenken erforderlich und dient somit als Beispiel, was sich die Pharmakotherapie der Zukunft zum Ziel gesetzt hat: eine verstärkte interprofessionelle Zusammenarbeit.

Das Zauberwort der Zukunft heißt Individualmedizin

Bisher ist man jahrzehntelang davon ausgegangen, dass ein Arzneimittel bei jedem Menschen gleich wirkt und in derselben Dosierung angewendet werden muss. Doch dieses festgefügte Bild bekommt immer mehr Risse. Es rückt zunehmend in den Fokus, bei einer Arzneimitteltherapie auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten und somit seine bio-psychosoziale Einmaligkeit einzugehen.

Was hat das nun mit Cannabis zu tun?

Bedingt durch die Illegalisierung als Betäubungsmittel gibt es vergleichsweise wenig Forschung und Studien zum Einsatz von Cannabis als Arzneimittel und somit auch keine leitlinienbasierte Standardtherapie wie bei anderen Arzneimitteln. Nur durch eine gute Zusammenarbeit von Patient*in, Ärzt*in und Apotheker*in kann die am besten geeignete Therapie gefunden werden.

Zunächst stellt sich die Frage der Applikationsform, also der Art der Anwendung. Am häufigsten wird Medizinalcannabis vaporisiert, was an sich schon eine recht innovative Darreichungsform darstellt. Da die inhalative Einnahme etwa im Berufsalltag oder in Kliniken nicht immer ganz unproblematisch ist, besteht aber durchaus auch Bedarf an anderen Arzneiformen. In der Apotheke können aus den Cannabisblüten individuelle Rezepturen angefertigt werden, die die Einnahme als ölige Tropfen, als Kapseln oder sogar Zäpfchen ermöglichen. Hier kommen auf jeden Fall auch die Wünsche des Patienten zum Tragen.

Welche Sorte passt zu mir?

Eine erste Annäherung an die richtige Sorte wird durch die Einteilung in Sativa-Arten und Indica-Arten möglich, denn die Genetik hat einen großen Einfluss auf die medizinische Wirkung. Sativa-Strains wirken tendenziell aktivierend, stimmungsaufhellend und antriebssteigernd; daher werden sie gerne tagsüber eingesetzt.

Die Indica-Strains hingegen haben eher eine beruhigende und entspannende Wirkung, was sie als Abend- bzw. Nachtmedikation attraktiver macht. Hybridsorten sind Kreuzungen aus beiden Genetiken. Obwohl es dazu bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, ist diese Einteilung als Orientierung durchaus sinnvoll. In der Regel müssen verschiedene Sorten ausprobiert werden, um die optimale Therapie zu finden.

Auch auf der Ebene der Wirkstoffe gibt es beim Medizinalcannabis wesentliche Unterschiede. Die arzneilichen Hauptkomponenten sind das THC, das als psychoaktiv gilt und damit für die Klassifizierung von Cannabis als Betäubungsmittel verantwortlich ist, und das CBD, dem keine berauschenden, sondern eher entzündungshemmende und krampflösende Eigenschaften nachgesagt werden.

Man sollte sich also auch Gedanken machen, ob bei dem zu behandelnden Beschwerdebild eine stark THC-haltige Sorte eher Sinn macht, oder eine, die überwiegend CBD enthält, oder eine Sorte mit beiden Wirkstoffen.

Begleitcannabinoide und Terpene als Entourage

Doch THC und CBD sind nicht alleine für die Wirkung verantwortlich - Stichwort Entourage-Effekt. Neben diesen beiden Hauptcannabinoiden gibt es noch weit über hundert Begleitcannabinoide. Das sind Stoffe, die eine ähnliche Struktur aufweisen, allerdings in deutlich geringeren Konzentrationen in der Pflanze enthalten sind. Nichtsdestotrotz haben auch sie einen Einfluss auf die Wirksamkeit bei bestimmten Erkrankungen. Das gilt auch für die Terpene. Terpene sind kleine und dadurch oft leicht flüchtige Verbindungen, die durch ihren ätherischen Duft auffallen, wie das Menthol der Pfefferminze oder das in Zitrusfrüchten vorkommende Limonen.

Die im Cannabis enthaltenen Terpene können die Wirkung einer bestimmten Sorte verfeinern und modifizieren: Das Terpen Myrcen beispielsweise ist selbst schmerzlindernd und verbessert die Gesamtwirkung von Cannabis bei Schmerzpatienten; Limonen wirkt stimmungsaufhellend und verbessert die psychische Begleitsymptomatik bei chronischen Krankheiten.

Es ist eine echte Stärke der Cannabistherapie, dass für den Patienten oft zusätzliche Benefits im Sinne einer positiven Nebenwirkung entstehen. Bedingt durch die Vielzahl der Anwendungsmöglichkeiten kann ein Schmerzpatient durchaus auch von der stimmungsaufhellenden Wirkung profitieren oder ein an Depressionen leidender Patient freut sich, dass er wieder besser schlafen kann.

Die Mitarbeit der Patient*innen ist notwendig

Die Tatsache, dass bei einer Therapie mit Medizinalcannabis die Mitarbeit der Patient*innen notwendig ist, ist ebenfalls sehr modern. Normalerweise spielt die Lebensqualität von Patient*innen bei einer Arzneimitteltherapie eine eher untergeordnete Rolle. Bei einer Cannabistherapie ist die Wahrnehmung des eigenen Körpers wichtig; man muss sich beobachten und lernen, Symptome zu beschreiben. Der Patient gestaltet die Therapie durch sein Feedback mit. Gerade zur korrekten Dosiseinstellung ist ein engmaschiger Austausch mit dem Arzt unerlässlich.

Foto: Crystalweed Cannabis / Unsplash.com

Wir brauchen eine verstärkte interprofessionelle Zusammenarbeit

Was die Inhaltsstoffthematik anbelangt, ist Cannabis in der Tat ein kleiner Rebell.

Die klassische Pharmakotherapie orientiert sich an dem Modell, dass ein Wirkstoff einen bestimmten Zielmechanismus hat (one drug, one target). Anders bei Cannabis: Hier ist es ein Wirkstoffgemisch, das den gewünschten Effekt hervorruft. Im Vordergrund stehen Wirkkomplex und Synergieeffekte. Erwiesenermaßen zeigen sogenannte Cannabis-Vollextrakte eine bessere Wirkung als die Einzelstoffe Dronabinol (= THC) und CBD. Im Fall von CBD wurde eine bis zu vierfache Wirksteigerung beobachtet.

Unter dem Schlagwort Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) soll die patientenorientierte Kooperation zwischen Ärzten und Apothekern gestärkt werden. Ein entsprechendes Projekt an der FU Berlin steht gerade in den Startlöchern.

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In der Vergangenheit hatte man eher voneinander abgetrennte Kompetenzbereiche: Der Patient hat die Krankheit, der Arzt hat die Therapie-/Verschreibungshoheit, und der Apotheker gibt das Medikament ab. Aufgrund seiner Komplexität als pflanzliches Arzneimittel macht Cannabis hier ein grundlegendes Umdenken erforderlich und dient somit als Beispiel, was sich die Pharmakotherapie der Zukunft zum Ziel gesetzt hat: eine verstärkte interprofessionelle Zusammenarbeit. Unter dem Schlagwort Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) soll die patientenorientierte Kooperation zwischen Ärzten und Apothekern gestärkt werden. Ein entsprechendes Projekt an der FU Berlin steht gerade in den Startlöchern.

Da es sich bei Medizinalcannabis durch die prohibitionsbedingte dünne Studienlage um medizinisches Neuland handelt(e), war eine interdisziplinäre Kooperation von Anfang an unumgänglich. Es haben sich effiziente Netzwerke zwischen Ärzt*innen, Apotheker*innen, Patient*innen und sogar Hersteller*innen gebildet. Auch die Cannabispatient*innen selbst sind gut vernetzt, tauschen ihre Erfahrungen untereinander aus und mehren so den Wissensschatz bezüglich der arzneilichen Wirkung von Cannabis.

Vorsicht bei synthetischen Varianten

Wer sich in seiner Freizeit mit Cannabis berauschen möchte, dem werden immer mehr dubiose Produkte angeboten. Ein besonders schlimmes Beispiel ist ein unter dem Namen „Liquid-CBD" in Umlauf gebrachter Cocktail. Dieser enthält nämlich kein natürliches CBD, sondern ein synthetisches Cannabinoid.

Synthetische Cannabinoide sind chemisch designte Wirkstoffe aus der Rezeptorforschung am Tiermodell, also speziell für die Forschung entwickelt, und zu keiner Zeit für die Anwendung am Menschen vorgesehen. Sie haben eine 40 bis 600fache Wirkung am CB1-Rezeptor und sind definitiv gesundheitsschädlich, bisweilen sogar tödlich. Sie können auch in einschlägigen Räuchermischungen oder Badezusätzen enthalten sein.

Die Legalisierungsdebatte und das Versprechen der neuen Bundesregierung, die legale Verkehrsfähigkeit von Cannabis voranzutreiben, sind wichtige Schritte in Richtung Verbraucherschutz und Konsumentensicherheit.

Gut für die Umwelt

Wer Richtung Zukunft blickt, kommt an einem drängenden Thema nicht vorbei: dem Umweltschutz. Es ist eine traurige Tatsache, dass sich moderne chemische Arzneimittel und deren Metabolite in der Umwelt anreichern und unsere Gewässer belasten. Dasselbe gilt für Nahrungsmittelzusatzstoffe und andere Produkte der chemischen Industrie.

Der Vorteil von pflanzlichen Arzneimitteln ist, dass Naturstoffe in der Regel biologisch abbaubar sind. Sollte im Klärwerk dennoch keine Zersetzung der Wirkstoffe erfolgen, findet sich auf dem weiteren Weg durchs Ökosystem bestimmt ein Organismus, der diese auf natürlichem Weg zersetzen kann.

Das Problem ist, dass diese Stoffe Molekülstrukturen aufweisen, die in der Natur nicht vorkommen. Dadurch können sie im Klärwerk oft nicht abgebaut werden und gelangen unverändert in unser Ökosystem. Eine Hochrechnung des Wasserforschungsinstituts der ETH Zürich (EAWAG) hat ergeben, dass der Rhein ab Basel im Laufe eines Jahres etwa 13 Tonnen des Antidiabetikums Metformin und circa 42 Tonnen des Süßstoffs Acesulfam Richtung Nordsee trägt.

Foto: Richard T / Unsplash.com

Der Vorteil von pflanzlichen Arzneimitteln ist, dass Naturstoffe in der Regel biologisch abbaubar sind. Sollte im Klärwerk dennoch keine Zersetzung der Wirkstoffe erfolgen, findet sich auf dem weiteren Weg durchs Ökosystem bestimmt ein Organismus, der diese auf natürlichem Weg zersetzen kann. Eine Cannabistherapie erfüllt also auch die in Zukunft immer wichtigeren Kriterien Nachhaltigkeit und biologische Umweltverträglichkeit.

Einen Pferdefuß gibt es diesbezüglich leider doch: Der Anbau von Medizinalcannabis ist nicht gerade ökologisch, sondern sehr energieintensiv, was auch an den strengen Vorgaben des Gesetzgebers liegt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden!


Autorin:

Dr. Sonja Ott, Apothekerin in der Fachabteilung für Medizinalcannabis in der Bezirksapotheke Berlin Mitte

BezirksApotheke Mitte

Friedrichshain

Rathausstr. 5

10178 Berlin

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