Bastian Kraft: „Für mich ist es eine Neuentdeckung“

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© Foto: Eke Miedaner

Es ist DAS Theaterstück zur Aidskrise der 1980er-Jahre. Und des ist DAS Theaterstück zu Homosexualität, Turbokapitalismus und religiösem Fundamentalismus in den USA. Welche Fragen diese ganz spezifischen Themen der Reagan-Ära mit unserer Zeit zu tun haben? Ein Erklärungsversuch mit dem 1980 geborenen Bastian Kraft, der das Stück ab dem 17. Oktober auf die Bühne im Thalia Theater bringt.

WARUM HAST DU DIR DIESES STÜCK AUSGESUCHT?

Für mich ist es eine Neuentdeckung. Ich gehöre zu einer Generation, die das Stück nicht in seiner Entstehungszeit gesehen hat. In den 1990ern war es das Stück der Stunde, fast jedes Theater in Deutschland hat es gezeigt. Dann aber verschwand es von den Spielplänen. Kürzlich wurde es in New York und Amsterdam erfolgreich wieder ausgegraben. Daraufhin habe ich es erstmals gelesen und gemerkt: Das ist ein wahnsinnig toller Stoff, bei dem es sich lohnt, einen Blick aus einer anderen zeitlichen Perspektive darauf zu werfen.

WIE FUNKTIONIERT DIESER BLICK HEUTE? DIE AIDSKRISE IST JA, ZUMINDEST HIERZULANDE ÜBERWUNDEN. UND AUCH DIE KALTE, EGOISTISCH-KAPITALISTISCHE 1980ER-YUPPIEZEIT DER REAGAN-ÄRA IST LANGE VERGANGEN. ODER DOCH NICHT?

Einerseits leben wir in einer völlig anderen Welt: Die politische Lage hat sich ebenso radikal gewandelt wie unser Alltag. Was Aids betrifft, kam damals bereits die Diagnose einem Todesurteil gleich. Das ist heute glücklicherweise nicht mehr der Fall und die Hysterie, die die Epidemie einst auslöste, scheint weit weg. Andererseits jedoch sind viele Fragen, die das Stück aufwirft, bis heute unbeantwortet: Wie gehen wir um mit Orientierungslosigkeit, immer größerer Beschleunigung und Hektik? Die Haltlosigkeit und Überforderung ist seit den 80ern noch stärker geworden.

ADAPTIERST DU DIE HANDLUNG ALSO IN UNSERE ZEIT?

Nein. Das würde nicht funktionieren. Wir lassen das Stück in der Reagan-Zeit und schauen mit Distanz durch den Filter der Zeit darauf. Bei Fernsehserien wie Mad Men oder dem Film Dallas Buyers Club hat mich beeindruckt, wie durch die historische Distanz der Blick des Zuschauers geschärft wird. Gerade durch den Abstand kann man sehr viel darüber erfahren, woher wir kommen und wie die Welt zu dem wurde, was sie heute ist.

DAS STÜCK IST UNGLAUBLICH LANG, BESTEHT EIGENTLICH AUS ZWEI STÜCKEN. WIE SETZT DU DAS UM?

Wir fassen beide Stücke zu einem zusammen. Die Handlung wird etwas beschleunigt und manche Zeitbezüge gestrichen, an der Story ändert sich jedoch nichts Grundlegendes. Wie in einer guten Fernsehserie begleitet man mehrere Protagonisten durch verschiedene Handlungsstränge, die geschickt miteinander verwoben sind. Das Tolle daran ist, dass jede Figur eine eigenständige Entwicklung durchlebt. Die Verunsicherung durch Aids, die Zeitenwende und das Auseinanderbrechen von Beziehungen werfen die Menschen auf sich selbst zurück. Und sie fragen sich, ob mit dem Millennium, das noch 15 Jahre entfernt war, eine neue Zeit anbrechen wird ...

HEUTE IST ES GENAU 15 JAHRE ALT, DIESES MILLENNIUM.

Genau. Und man stellt sich zwangsläufig die Frage: Wie weit sind wir seither gekommen? Hat sich die Welt zum Besseren gewandelt? Haben wir aus Fehlern gelernt? Gibt es einen Fortschritt in der Art, wie wir zusammenleben? Oder sind wir eher ratloser geworden? Treten wir auf der Stelle? Haben wir die Hoffnung auf eine Zeitenwende aufgegeben?

IN VIELERLEI HINSICHT IST DIE GESELLSCHAFT DOCH WEITERGEKOMMEN, ODER NICHT?

Es ist immer eine Frage der Perspektive. In Bezug auf die LGBT-Bewegung oder auch die weibliche Emanzipation wird man ja oft mit der Haltung konfrontiert, dass man doch mittlerweile fast alle Ziele erreicht hätte und die Aktivisten deshalb endlich Ruhe geben sollten. Viele reagieren geradezu genervt, wenn diese Themen heute diskutiert werden, als hätte man die Öffentlichkeit schon lange genug damit belästigt. Und doch gibt es an so vielen Stellen immer noch Ungleichbehandlung. Deshalb fällt es mir schwer zu sagen, wie groß der Fortschritt tatsächlich ist. Haben wir das Gröbste geschafft? Oder ist da immer noch ein riesiger Berg abzuräumen? Der heutige Blick auf Engel in Amerika wirft genau diese Fragen auf.

DAS STÜCK SPIELT IN AMERIKA, HANDELT VOM AMERICAN WAY OF LIFE. WENN ES HIER IN EUROPA AUFGEFÜHRT WIRD, HAT DAS DANN ETWAS MIT DEM ANTIAMERIKANISMUS ZU TUN, DER SICH HIER BREITMACHT?

Engel in Amerika ist kein Lehrstück, das bestimmte Zustände anklagen will. Das Stück ist auf eine sehr schöne Weise ambivalent, weil es Fragen stellt, ohne die Antworten gleich mitzuliefern. Uns geht es also nicht darum zu erzählen, wie schlimm die Aidskrise war oder wie herzlos Reagan regierte. Es geht um Menschen in der Krise, im Zwiespalt, und mit diesem Zustand kann ich mich sofort identifizieren. Da ist beispielsweise ein schwules Paar, dessen Beziehung daran zerbricht, dass einer an Aids erkrankt und der andere damit nicht umgehen kann. Natürlich ist das einerseits eine ganz spezifische Situation im New York der 1980er. Darüber hinaus aber stellt sich mir sofort die Frage: Welche Rolle spielen Krankheit, Schwäche und Tod in meinen eigenen Beziehungen? Wie gehen wir heute, da Gesundheit mehr und mehr zum Fetisch wird, in der Liebe mit unserer Sterblichkeit um?

DU HAST DIE URAUFFÜHRUNG VON AXOLOTL ROADKILL AUF DIE BÜHNE GEBRACHT  EBENFALLS EIN ROMAN, DER NAHE AN UNSERER ZEIT DRAN IST, ABER EBEN AUCH SCHON WIEDER FÜNF JAHRE UND DAMIT UNENDLICH LANGE HER. DAS BUCH SORGTE FÜR RIESIGE DISKUSSIONEN ÜBER BERLIN, DROGEN, KLUBLEBEN. HAST DU EINE AFFINITÄT ZU SOLCHEN THEMATIKEN? WIE ENTSCHEIDEST DU, WELCHE STÜCKE DU MACHST?

Die Stücke suche ich gemeinsam mit dem jeweiligen Theater aus und bin froh, dass meine eigenen Vorschläge oft angenommen werden. Im Idealfall löst ein Text bei mir Fragen aus, auf die ich keine einfachen Antworten habe. Ich suche nach Stoffen, die mich herausfordern, weil sie mich zu Gedanken bringen, die ich vorher nicht gedacht habe. Dann spüre ich, dass sich die Auseinandersetzung lohnt. Wir alle können uns ja leicht auf einen Allgemeinplatz einigen, wie Diskriminierung ist schlecht. Wenn ein Text unterm Strich nur eine so simple Aussage trifft, ist mir das zu wenig. Interessant wird es erst, wenn ein Stück mich in einen Zwiespalt bringt.

WO FINDEST DU DIESE ZWIESPÄLTE?

Am meisten beschäftigt mich wohl die Frage nach Identität: Wie werde ich der, der ich bin oder die, die ich bin? Liegt mein Ich gänzlich in meinen Genen begründet, bin ich, im Lady-Gaga-Sinn, born this way? Oder bin ich das Produkt meiner Sozialisation im Helmut-Kohl-Wende-Deutschland? Bin ich frei, mich selbst zu erfinden? Oder bin ich dazu verdammt, auf Situationen zu reagieren, in die das Schicksal mich hineinwirft? So ging es in Orlando beispielsweise um eine Persönlichkeit, die die Grenzen von Geschlecht und Zeit sprengt, und in Axolotl Roadkill um die Sehnsucht nach Befreiung von identitärer Norm.

UND DARUM AUCH ENGEL IN AMERIKA ...

Absolut. Gerade in der gesellschaftlichen Reaktion auf Aids wurde ja die Frage nach sexueller Identität politisch relevant. Die radikale republikanische Haltung, dass Gott mit der Krankheit einen lasterhaften Lebensstil bestraft, ist bis heute nicht ganz aus dem Bewusstsein verschwunden. In unserem Stück geraten die Figuren in tiefe Identitätskrisen. Ein mormonischer Republikaner zum Beispiel merkt, dass er schwul ist und seine Frau trotzdem immer noch liebt. Das Stück bewegt sich sehr unterhaltsam und schlau durch die Spannungsfelder zwischen Glaube, Politik und Sexualität in der Findung des eigenen Ich.

GANZ PLUMP GEFRAGT: EIGENTLICH MÜSSTE DAS DOCH GERADE AM THEATER KEIN PROBLEM MEHR SEIN, ODER?

Das Theater sieht sich selbst gern als Ort der Freiheit und Offenheit. Deshalb werden viele blind für das Brett vorm eigenen Kopf. Sexismus gibt es zwar überall, aber im Theaterbetrieb fällt er besonders schmerzhaft auf, gerade weil die Betreffenden selbst oft keinerlei Bewusstsein dafür haben. Außerdem gibt es bis heute beispielsweise Agenturen für Film und Theater, die schwulen Schauspielern explizit raten, öffentlich nicht über ihre Sexualität zu sprechen, weil sie sonst für viele Rollen nicht mehr besetzt würden. Und das in einem Kulturbetrieb, der sich selbst als progressiv feiert. Der gleiche Kulturbetrieb übrigens, der bis heute Frauen im Durchschnitt schlechter bezahlt als Männer.

*Interview: Christian Knuth

WWW.THALIA-THEATER.DE

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