Annette Hess: „Caterina Schöllack ist aus heutiger Sicht eine maligne Narzisstin …“

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Foto: F. Casanova

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Die einst in Hannover geborene Drehbuchautorin wurde durch erfolgreiche Fernsehserien wie „Weissensee“, „Ku’damm 56/59/63“ und „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ populär und zudem mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, so erhielt sie zum Beispiel. den Grimme-Preis und den Deutschen Fernsehpreis. Ihr Thema ist meist die deutsche Vergangenheit, Deutschland im 20. Jahrhundert. So auch bei ihrem Roman „Deutsches Haus“, der den Auschwitzprozess in Frankfurt Anfang der 1960er Jahre zum Thema hat und für Disney+ als Serie umgesetzt wurde. Sie war wieder die schreibende Kraft beim neuen Musical von Peter Plate und Ulf Leo Sommer: „Ku‘damm 59“, das im Mai seine Premiere in Berlin feierte. Wir erreichten sie am Telefon.

„Ku‘damm 59“ spielt in einer Zeit, in der West-Berlin wieder erblühte, eine Zeit voller Lebensfreude. Aber auch der Unterdrückung queerer Lebensformen und eine Zeit, in der die Frau weniger emanzipiert war, als noch in den 1930ern. Wie schwer ist es, das unterhaltsam zu transportieren? Das fällt uns unendlich leicht, weil wir das ja selber brauchen. Dieser Comic Relief ist psychologisch wichtig, um Schmerz und Katastrophen überhaupt aushalten zu können. Jeder hat schon einmal erlebt, dass nach einer Beerdigung beim Leichenschmaus viel gelacht wird. Das scheint unangemessen, aber der Mensch braucht diesen Ausgleich, sonst wird man depressiv ... Peter und Ulf haben die beiden Seiten der Geschichte, Schein und Sein, mit unheimlich großer Begeisterung aufgenommen und tatsächlich Volksmusik geschrieben, was sie ja sonst nie tun würden. Einer dieser wahnsinnigen Titel heißt „Halli Galli“- dazu muss man nicht mehr viel erklären. Eine neue Figur ist die Regisseurin Christa Moser, die einst Nazi-Propaganda-Filme und jetzt in den 1950ern Heimatfilme dreht. Die überzuckerte Darstellung dieser heilen Welt ist unglaublich komisch. Im Kontrast dazu spielen sich in der Familie Schöllack menschliche Dramen ab.

Foto: M. Rädel

Inwiefern hängt die Emanzipation der Frau mit der LGBTIQ*-Bewegung zusammen? 1959 hatte sich die Frau dem Mann unterzuordnen, was gesetzlich verankert war. Homosexualität galt als Krankheit, das Praktizieren als kriminell. Die Frauen haben sich gegen die Rollenbilder aufgelehnt, die Emanzipation mit ihren permanenten Rückschlägen ist ein jahrhundertlanger Aufstand, die LGBTIQ*-Bewegung ist ja deutlich jünger. Beide Gruppen hatten und haben bis heute gemeinsam, dass sie mit oft breitem gesellschaftlichem Konsens unterdrückt werden. Das aktuelle Rollback ist da besorgniserregend.

Die 1950er waren in keinster Weise so frei, wie #mensch es rückblickend verklärt. Die Ku’damm-Reihe zeigt die Mentalität der Zeit schonungslos und realistisch, vor allem auch die alltägliche Gewalt gegen Frauen. Trotzdem versinken manche Zuschauer*innen in wohlige Gefühle und sagen sogar: Ich hätte so gerne in dieser Zeit gelebt! Da stehe ich dann immer etwas baff davor. Im Musical darf eine Frau nicht alleine ihr Kind aufziehen, den Führerschein nicht machen und wird geschlagen – und dann kommen Sätze, wie schön die Kostüme sind! Aber wie beim Comic Relief muss der Mensch anscheinend auch verdrängen und ausblenden.

Ein Ansporn, das Ernste noch mehr zu betonen? Ich gehe beim Schreiben nicht pädagogisch vor, erst einmal erzähle ich mir die Geschichte selber, sie muss mir Spaß machen, sie muss sich lebendig anfühlen. Wenn ich mit meiner Arbeit einen Anspruch habe, dann den, dass ich Verständnis wecken will für die Figur, für den Menschen. Die Mutter Caterina Schöllack ist aus heutiger Sicht eine maligne Narzisstin, so brutal, wie sie ihre Umwelt und ihre Töchter behandelt. Die Figur ist meiner Großmutter nachgezeichnet. Ich habe sie böse erlebt aber gleichzeitig auch als begabte Frau, die sehr gerne einen Beruf ausgeübt hätte, die aber gefangen war in einer Ehe mit einem Mann, den sie nicht wirklich geliebt hat. Man versteht, warum sie verhärtet ist. Auch der Professor Fassbender, der seine Frau drangsaliert, macht das nicht aus schierem Sadismus: Er hat Angst, von der 30 Jahre jüngeren Frau verlassen zu werden, er hat Angst vor der Einsamkeit.  Ich glaube, er hasst sich selbst für sein Verhalten. Wenn man nach dem Musicalbesuch manche Menschen etwas milder betrachtet, sich bewusst macht, dass man immer nur Teile der anderen sieht, wenn man vielleicht mal Fragen stellt und in den Dialog kommt - das wäre grade heutzutage wichtig und schön.

*Interview: Michael Rädel

musicalsberlin.comkudamm59.lnk


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