Cameron Carpenter: „ ... das einzige Instrument, das mich je wirklich interessierte ...“

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Foto: Thomas Grube

Jeder Orgel müsse man, ähnlich einem Menschen, individuell und spontan zu begegnen wissen, sagte der extravaganteste aller Orgelmusiker einmal. Für uns hatte der Weltstar Zeit und verriet noch viel, viel mehr.

Foto: Thomas Grube

Du bist nicht religiös, dennoch spielst du mit der Orgel ein Instrument, das in höchstem Maße mit Religionen assoziiert wird. Wie kam es dazu?

Ich bin nicht „nicht religiös“, ich bin Atheist, ein kleiner Unterschied. Die Orgel geht dem Christentum voraus, sie ist folglich kein christliches Instrument, sondern stammt aus der Zeit des antiken Griechenlands und des Polytheismus. Wenn man die Orgel als Instrument Gottes sehen will, muss man zugeben, dass sie das Instrument vieler Götter ist, nicht bloß eines, da sie älter ist als das Konzept des Monotheismus. Doch die Orgel, so wie sie in der modernen Zeit existiert, ist ein Instrument wie jedes andere. Wenn die kirchlichen Verantwortlichen damals entschieden hätten, dass das Akkordeon die Gottesdienste musikalisch begleiten soll, würden wir heute von dem Akkordeon als christlichem Instrument sprechen.

Wann fingst du mit dem Orgelspielen an?

Ich fing im Alter von sechs Jahren an, lernte Klavier und Orgel zur gleichen Zeit. Doch die Orgel war das einzige Instrument, das mich je wirklich interessierte.

Die Orgel gilt als Königin der Musikinstrumente …

Das ist sie nicht. In meiner Heimat, den USA, nennt man sie so. Es ist ein stupider Titel, der von einem Mangel an Verständnis dessen herrührt, was die Orgel wirklich ist. In ihrem mathematischen Wesen ist sie ein binäres Instrument – wie ein Computer. Sie wurde weit vor dem Zeitalter der digitalen Revolution erschaffen, vor Telegraf und Telefon. Bis dieses im Jahre 1857 erfunden wurde, war die Orgel der komplizierteste von Menschenhand geschaffene Apparat. Sie war längst nicht das komplizierteste Musikinstrument, sondern schlicht die wissenschaftlich fortschrittlichste Maschine. Sie benutzt Energie, die von einer anderen Quelle als dem Körper des Musikers herrührt. Dadurch war sie ihrer Zeit schon immer weit voraus. Das sollte gemeint sein, wenn Menschen von der Orgel als „Königin der Instrumente“ sprechen. Es geht um ihre informationelle Omnipräsenz. Alles andere sind nostalgische oder sentimentale Auffassungen.

Wie würdest du deine Stellung in der Orgelwelt bezeichnen?

Meine Stellung ist außerhalb der Orgelwelt – eine Stellung, um die ich sehr hart kämpfen musste. Ich bin wohl der einzige Organist, der sagen darf, dass er sich eine Karriere außerhalb der Orgelwelt aufbauen konnte. Diese Welt ist ein Ort, den man als Künstler verlassen möchte. Die Stimme der Unabhängigkeit, die Stimme der Skepsis und auch die Stimme der Technologie ist dort eine sehr einsame Stimme. Doch obgleich die Orgelwelt diese Stimme nicht möchte, braucht sie sie.

Foto: Thomas Grube

Dir wird öfter unterstellt, du wolltest die Orgelwelt revolutionieren …

Ich würde kaum Orgel spielen, wenn ich eine Revolution starten wollte. Es könnte auch keine Revolution geben, denn die klassische Musik liegt in den letzten Zügen. Oft wird behauptet, ich wolle die Orgel „popularisieren“. Denkt jemals jemand darüber nach, was das bedeuten würde? Doch die Außenstehenden trifft für diese Annahme wohl keine Schuld, denn einige der am stärksten fehlgeleiteten Leute sind in der Welt der Orgel und der klassischen Musik selbst zu Hause. Sie glauben, klassische Musik sei etwas, das man fördern oder gar retten müsse. Das sind sehr schwache Vorstellungen. Das Ende der klassischen Musik ist Teil der klassischen Musik. Sie ist ein kulturelles Nebenprodukt und Kulturen ändern sich, Menschen ändern sich und mit ihnen auch die Dinge, die sie schaffen und schätzen. Die Tragik der klassischen Musik liegt in ihrem Untergang – und dieser ist nicht aufzuhalten. Doch selbst wenn man es könnte, wäre ein Mensch allein dazu nicht fähig.

Gibt es Stücke oder Komponisten, die dich inspiriert haben?

Ich habe ein Problem mit dem Wort „inspirieren“, ich glaube nicht an dieses Konzept, da es im Kern ein religiöses ist. Es hält nicht stand im Lichte dessen, was ein Künstler macht, und mit den Entscheidungen, die er treffen muss. Die Orgel ist ein Grund dafür, dass ich so denke, denn anders als die meisten Instrumente versteht sie bloß ja oder nein. Unabhängig davon, wie inspiriert ich sein mag oder auch nicht, kann die Orgel nur die Befehle annehmen, die ich ihr zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt geben muss. Von daher ist Inspiration ein völlig irrelevanter Punkt, wenn es um das Spielen der Orgel geht, oder meiner Meinung nach der Musik allgemein.

Dennoch finde ich in den Werken einiger Komponisten große Freude und Bedeutung. Als klassischer Musiker, und vor allem natürlich als Organist, liebe ich die Musik von Johann Sebastian Bach. Ich bin jedoch kein Fan seiner Ideen. Bach war ein Komponist auf dem höchsten Niveau intellektueller Fähigkeiten, als Mensch scheint er dies jedoch nicht gewesen zu sein. Wenn man ihm heute im Bus begegnen würde und er gäbe das von sich, was er in seinen Briefen schrieb, würde man sich ganz schnell von ihm wegsetzen. Er war ein religiöser Fanatiker. Es gibt definitiv antisemitische Momente und Texte in seinen Werken. Das können wir nicht ignorieren und dazu müssen wir Stellung beziehen.

Du bezeichnest dich nicht als schwul. Kann man sagen, dass du Labels hasst?

Ich würde nicht sagen, dass ich sie hasse. Sie sind sicherlich fürchterlich, aber doch notwendig.

Orgelspielen ist eine körperliche Herausforderung, wie hältst du dich fit?

So anstrengend ist es nicht, es sieht schlimmer aus, als es ist. Doch Orgelspielen erfordert eine genaue Präzision und die Fähigkeit, eine Maschine zu kontrollieren, die in der Lage ist, musikalische Informationen in kleinste Zeiteinheiten aufzuteilen. Die große Herausforderung, vor die die Orgel den Musiker stellt, ist also eher psychologisch. Du musst größer sein als die Orgel, bildlich gesprochen. Du musst über ihr stehen, ihr einen Schritt voraus sein, du musst in verschiedenen Zeitzonen gleichzeitig denken können.

*Interview: Leander Milbrecht

www.cameroncarpenter.com

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