NEWCOMER: AJ Mitchell

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Foto: M. Rädel

Fast kann er einem ein bisschen leidtun. AJ Mitchell muss im hintersten Winkel der Berliner Soho-House-Bar auftreten. Während der blutjunge Amerikaner auf der winzigen Bühne ein paar Lieder seines Debütalbums „Skyview“ vorstellt, essen, trinken und quasseln die meisten Mitglieder dieses Privatklubs ununterbrochen weiter. Einige Influencer versuchen, den Auftritt zu filmen, was aufgrund der schummerigen Beleuchtung gewiss eine Herausforderung ist. Wohl dem, der ein Smartphone mit einer guten Kamera besitzt ...

So gesehen hat der Sänger nicht den besten Start in Deutschland. Er bleibt trotzdem gelassen, nein, besser: Er lächelt alle Widrigkeiten tapfer weg. Für den Song „Slow Dance“, bei dem normalerweise Ava Max seine Duettpartnerin ist, setzt er sich an sein Keyboard. Diese reduzierte Version zeigt, wo seine Stärke liegt – der 18-Jährige hat eine markante Stimme, mal legt sie sich über Popmelodien, mal über R ’n’ B.

Seine Plattenfirma preist ihn als neuen Justin Timberlake, Kritiker nennen ihn in einem Atemzug mit Justin Bieber oder Shawn Mendes. All diese Vergleiche seien durchaus schmeichelhaft, sagt er am nächsten Morgen beim Interview: „Aber letztlich bin ich einfach ich selbst.“ Wie wichtig ihm Authentizität ist, betont er während des Gesprächs wiederholt. Obwohl er mit 15 nach Los Angeles zog, verhehlt er nicht, dass er eigentlich aus einer Kleinstadt stammt. Er wuchs im ländlichen Illinois auf. Mit seinen Freunden stromerte er gern draußen umher, entweder radelten sie zu irgendwelchen leer stehenden Häusern oder sie spielten Basketball.

Parallel dazu entwickelte AJ Mitchell seine Leidenschaft für Musik. „Bei uns zu Hause stand ein ziemlich ramponiertes Klavier“, erinnert er sich. „Die Kirchengemeinde hatte es uns geschenkt.“ Auch wenn die Tastatur nicht mehr komplett war, spielte er bereits als Vierjähriger auf diesem Instrument. Er nahm Unterricht, mit sechs begann er, eigene Stücke zu schreiben. Die postete er sieben Jahre später in seinem Instagram-Account, nebst einigen Coverversionen: „Ich wollte wissen, was andere von meiner Musik hielten.“

Offensichtlich viel. Seine Fangemeinde wuchs stetig. Zudem wurde das YouTube-Kollektiv Team 10 auf ihn aufmerksam, es holte AJ Mitchell nach Los Angeles: „Wir haben alle in einem Haus gewohnt.“ Jedoch: Die Atmosphäre war seltsam. „Meistens saß jeder in seiner Ecke und ignorierte die anderen“, erzählt er. „Bis die Kamera anging. Dann machten alle plötzlich auf beste Freunde.“ Dieses ewige Hin und Her schaffte ihn: „Für mich fühlte sich das nicht echt an.“

Es war ein Segen, dass er seinen Manager kennenlernte, der AJ Mitchell bei sich aufnahm. Nachdem er seinen Plattenvertrag unterschrieben hatte, holte er seine gesamte Familie zu sich nach Kalifornien. Mit der Midtempo-Nummer „All My Friends“ schaffte er den Sprung in die Top 20 der US-Charts. Diese Fremdkomposition spricht ihm aus der Seele: „Während sich meine Kumpel verliebten, war ich komplett auf meine Karriere fokussiert.“ Das kam nicht bei jedem gut an. Mitten in einer Songschreiber-Session kriegt AJ Mitchell eine Textnachricht von einem Freund. Er teilte ihm mit, einige Teenies an seiner alten Schule würden über ihn herziehen, nach dem Motto „AJ hält sich nun für berühmt“. Das traf ihn hart: „Ich fragte mich, warum die Leute so viel redeten.“ Aus dieser Überlegung heraus entstand das groovige R ’n’ B-Stück „Talk so much“: „Das ist aber kein wütendes Lied. Ich habe eher mit einem Augenzwinkern die Situation analysiert.“ *Dagmar Leischow


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