Interview: Schwul in Bollywood  – Indien im Wandel

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Am 6. September 2018 entschied der Oberste Gerichtshof in Indien, dass Homosexualität nicht länger illegal ist. Was hat sich seitdem getan? Wir sprachen mit dem schwulen Bollywood-Schauspieler Saattvic über den Wandel in der indischen LGBTIQ*-Community und der Schauspielwelt im letzten Jahr – und darüber, wie man sich als Schwuler in Bollywood fühlt.

Was hat sich seit dem Urteil im letzten Jahr in Indien verändert?

Sehr viel. Besonders groß war die gesellschaftliche Veränderung für Queers aus mittleren und unteren sozioökonomischen Schichten. Sie bekamen ihr Leben lang zu hören, dass es falsch sei, schwul zu leben. Sie konnten sich nicht mit anderen Homosexuellen treffen ohne Angst zu haben, dass jemand sie sehen könnte – und ohne Angst vor der Polizei.

Manche begehen Selbstmord wegen der Depression, die mit einem solchen Leben einhergeht. Einem Leben, das du allein verbringst und in dem Glauben, nicht normal zu sein.

Während die familiäre Unterdrückung sich nur langsam ändert, ist die Rolle der Polizei nun eine andere. Es gab in der Vergangenheit Fälle, in denen Leute gefälschte Profile auf grindr eingerichtet haben. Der Lockvogel brachte den Schwulen dann an einen Ort – die anderen Bandenmitglieder verprügelten ihn und raubten ihn aus. Wenn so etwas jetzt passieren sollte, können die Betroffenen wenigstens zur Polizei gehen und Anzeige erstatten, ohne Angst zu haben, daraufhin selbst verfolgt zu werden.

Hatte das Urteil direkte Auswirkungen auf die Schwulenszene in Indiens Großstädten?

Ich gehe zwar selten aus, aber wenn, dann besuche ich die schwulen Nächte in den Kitty Su-Clubs der Hotelkette LaLit. Die Partys finden in mehreren indischen Städten statt. Kürzlich besuchte ich die Party in Delhi und stellte fest, dass die Atmosphäre ganz anders war als früher. Dort kamen einfach Menschen zusammen, die eine schöne Zeit mit ihren Freunden verbringen wollten. Vor dem Urteil wirkte es oft so, als flüchteten die Leute auf die Party, um einen unterdrückten Teil ihrer Persönlichkeit und Sexualität auszuleben. Es artete oft in eine Fleischbeschau aus.

Du hast dich 2017 öffentlich als schwul geoutet. Wie hat deine Familie reagiert?

Ich war 13 oder 14 Jahre alt, als meine Eltern es herausfanden und es war zum Glück nie ein Problem für sie. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich sie habe. Es gibt sogar ein Video, das darüber berichtet, wie gut meine Familie damals reagiert hat.

Es ist für die meisten indischen Schwulen nicht so einfach, sich zu outen, wie es für dich war, oder?

Nein, es muss immer noch viel gesellschaftliche Akzeptanz erreicht werden. Ich kenne LGBTIQ*s, die wegen ihres extravaganten Aussehens verprügelt und belästigt wurden. Manche begehen Selbstmord wegen der Depression, die mit einem solchen Leben einhergeht. Einem Leben, das du allein verbringst und in dem Glauben, nicht normal zu sein. Zwei meiner eigenen Freunde haben Selbstmord begangen. Zwar ist die Bedrohung noch immer sehr real, aber alles ist im Wandel begriffen: meiner Erfahrung nach ist die jüngere Generation viel akzeptierender und entspannter als ältere Generationen.

Du hast die Oxford University besucht, fünf Jahre lang in London gewohnt. Wie fühlte es sich an, plötzlich in einer westlichen Weltstadt zu leben?

Ich liebte die Freiheit, die mit dem Leben in London einherging. Wenn du in einer Gesellschaft aufwächst, in der deine Gefühle illegal sind, musst du ständig Geheimnisse bewahren und Dinge vor anderen Menschen verstecken. Es gab in Indien nur zwei Sorten schwuler Männer, die sehr gegensätzlich waren: Die einen verkrochen sich im Schrank und fürchteten das Outing, die anderen waren geoutet und verhielten sich auffallend schwul. Frei nach dem Motto: „Sieh mich an, hier ist mein Regenbogen!“ Da die Community so klein war, musstest du dich ganz der Sache verschreiben, sobald du dich geoutet hattest. In Großbritannien lernte ich zu akzeptieren, dass Schwulsein nur ein Teil von mir ist. Es definiert mich nicht.

Was war der größte Unterschied zwischen dem Leben als schwuler Mann in London zu dem in Indien?

Wenn ich mich in Indien vor jemandem outete, war mein Gegenüber immer geschockt. Ich bekam oft Dinge zu hören wie: „Aber du bist nicht feminin – wie kannst du schwul sein?“ oder „Warst du schon beim Arzt?" Durch meinen familiären Rückhalt konnte ich es mir erlauben, Leute damit zu überraschen und zu schockieren. In meinem ersten Jahr in Oxford spielte ich dann in einem Theaterstück mit, in einer Studentenproduktion. Die Tickets verkauften sich nicht gut, also verlangte der Direktor, dass wir unsere Partner und Partnerinnen einluden, um die Plätze zu besetzen. „Saattvic, kommt deine Freundin?“, wollte er wissen. Daraufhin erklärte ich, dass ich schwul sei. Ich erwartete tiefes, geschocktes Luftholen – aber er fragte ohne mit der Wimper zu zucken: „Okay, aber dein Freund kommt?“ Als ich erwiderte, dass ich Single sei, sagte er bloß „Verdammt!“ und wandte sich dem Nächsten zu.

Wie ist es als Schwuler in Bollywood zu arbeiten?

Jeder weiß, dass es im Filmgeschäft und in der Kunst viele queere Menschen gibt – aber niemand spricht darüber. Als ich 2012 aus London zurückkehrte, versteckte ich meine Sexualität wieder. Es herrschte der Glauben, dass die Casting-Direktoren einem nur die femininen Rollen anbieten, wenn sie wissen, dass man schwul ist. 2017 konnte ich dann feststellen, dass es langsam mehr Akzeptanz gab. In mehreren TV-Formate wurden queere Themen behandelt, darunter die beliebte Serie Satyamev Jayate von Bollywood-Star Aamir Khan. Und natürlich gab es diesen wunderschönen Film Kapoor & Söhne. Ich denke, das war das erste Mal, dass in einem großen Film ein LGBT-Charakter nicht bloß als schwuler Stereotyp dargestellt wurde. Er war einer der Hauptdarsteller und er war zufällig schwul. Das war ein Meilenstein.

Wie hat sich die Schauspielwelt nach dem Urteil verändert?

Als das Urteil erlassen wurde, änderte sich alles. Es gibt nun viel mehr Filme mit schwulen Charakteren darin. Amazon Prime und Netflix sind in Indien ziemlich beliebt, daher gibt es jetzt viele Webserien. In den meisten von ihnen hat man eine ganze Reihe von schwulen oder bisexuellen Charakteren. Sie werden so dargestellt, wie sie sind, ohne jegliches Urteilsvermögen, als komplexe Charaktere und nicht klischeehaft. Die Webserien in Indien werden zwar eher von sozial und wirtschaftlich wohlhabenderen Menschen gesehen – aber selbst in den Fernsehsendungen für die breite Masse sind inzwischen oft LGBTIQ*-Themen vertreten. Jede zweite Reality-Show hat einen schwulen Teilnehmer. Die Schauspiel- und Fernsehwelt hat sich in den letzten sieben Jahren sehr, sehr schnell weiterentwickelt.


Zur Person

Saattvic (33) studierte Schauspiel und Wirtschaftswissenschaften. Neben der Produktion und Regie mehrerer TV-Werbespots und Theaterstücke, in denen er auch die Hauptrolle spielte, nahm er an der großen, indischen TV-Show Everest teil und spielte im Bollywood-Film Badmashiyan. Derzeit teilt er seine Zeit zwischen Wirtschaftsberatung und den darstellendenden Künsten.

Saattvic ist auch auf Instagram und Facebook vertreten.

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