#Interview: Gunnar Solka über Leben, Lotti und Lindenstraße

Als Gunnar Solka im September 2004 ins Ensemble der „Lindenstraße“ kam, war vielen seiner Kollegen die frühere Sorge um ein rasches Ende der ARD-Serie nicht mehr präsent. Während die Darsteller der ersten Stunde zunächst nicht damit rechneten, dass die „Lindenstraße“ mehr als zwei oder drei Jahre laufen würde, war Hans W. Geißendörfers Schöpfung Mitte der 2000er Jahre längst mehrfach ausgezeichneter Kult und fester Bestandteil des sonntäglichen Abendprogramms. Wie ein Schock traf im Herbst 2018 die Nachricht zum „Aus“ nach über 34 Jahren sowohl die treuen Fans als auch die Schauspieler der „Lindenstraße“. „Es hat mich sehr getroffen, das gebe ich zu“, lässt Gunnar Solka zu Beginn unseres Gespräches wissen. „Lotti ist immerhin 15 Jahre Teil meines Lebens“.

Foto: WDR /Martin Menke

Es ist ein grauer Tag, als unser Autor Marcel Schenk auf dem WDR-Gelände in Köln-Bocklemünd auf Gunnar trifft. Und grau passt eigentlich gar nicht zu dessen Rolle. „Peter Lottmann“, genannt „Lotti“, eroberte als partytauglicher, extrovertierter Maskenbildner schnell die Herzen der Fernsehzuschauer - und fand auch in der Lindenstraße schnell Anschluss. Zwar sind die Zeiten, in denen ein schwuler Fernsehkuss zum medialen Aufschrei führte, längst vorbei, aber „Lotti“ lässt nichts anbrennen. Er verliebt sich unglücklich in „Dr. Carsten Flöter“ (dies sollte nicht die einzige unerfüllte Liebe für „Lotti“ bleiben), verfällt der Kaufsucht und findet trotz aller Dramen in der „Tanja Schildknecht“-Darstellerin eine Freundin fürs Leben. „Sybille Waury und ich verstehen uns auch privat wunderbar. Wir wohnen in Berlin nicht weit voneinander entfernt, und somit lebt unsere Freundschaft zumindest hinter der Kamera auch nach dem Ende der „Lindenstraße“ weiter“, erzählt Gunnar Solka.

Foto: WDR

Lass uns in deine Jugend zurückgehen, wie waren deine frühen Jahre in der DDR?

Für mich als Kind wirkte die DDR ganz schön groß. Bei Autofahrten ins ferne Sachsen brauchte ich damals Anti-Kotz-Tabletten. Die aber ihre Wirkung verloren, sobald ich aus dem Auto stieg. Daheim gab es viel Natur. Baumbuden bauen, Räuber und Gendarm spielen. Und auch immer wieder ins Kino gehen. Im Ostseeurlaub hab ich Muscheln bemalt und verkauft, um von diesem Geld zwei-, dreimal am Tag ins Zeltkino zu können.

Das Thema „Film“ hat dich also bereits früh begeistern können ...

Sehr sogar. Ich war im „Filmclub“. Und wir haben Spielfilme auf 8 mm nachgedreht. Ich habe aber auch viel Zeit allein verbracht. Menschen beobachten. Oder mich auf Dachböden zurückgezogen, in alten Magazinen und Zeitschriften gestöbert. Und ich hatte den Wunsch verspürt, mal nach Frankreich reisen zu können. Das Frankophile war schon immer ein Teil meines Lebens.

Wie und wann hast du Französisch gelernt? In der Schule war es im Osten kein Thema.

Ich hätte dafür in eine andere Stadt ziehen müssen, also begann ich autodidaktisch mit zirka 14 Jahren. Die französische Kultur zog mich an: Filme, Musik, Romane, Gedichte, Magazine. Also sonntags die „L’Humanité Dimanche“ aus einer anderthalb Stunden entfernten Stadt besorgen. Und ich hatte den Kassettenrekorder-Mittschnitt von Jacques Demys Film „Les Demoiselles de Rochefort“: Dialoge und Gesang in Alexandrinern zu Jazz von Michel Legrand kann ich nur empfehlen.

Reisefreiheit oder auch ganz einfach Nachschub an neuen Magazinen aus dem Westen, daran haperte es vermutlich ...

Meine Oma brachte mal aus dem Westen eine Illustrierte mit und so kam ich an die Agenturadresse der Schauspielerin Claude Jade. Sie antwortete mir, dem Jungen aus dem Osten, privat und es wurde eine lange Brieffreundschaft. Und was das Hapern betrifft: Aus dem wenigen oder aus dem Nichts etwas zu machen, war eine gute Erziehung. Den gewissen Hauch von Freiheit konnte ich als Jugendlicher aber zumindest in der Bibliothek spüren. Dort verbrachte ich viel Zeit mit Büchern, auch über Frankreich und seine Filmkultur. Reisen nach Prag waren auch eine Möglichkeit, um an Bücher zu kommen, die es in der DDR nicht gab. Und da ich die Sprache nicht beherrschte, habe ich Wort für Wort mit Hilfe eines Wörterbuchs übersetzen müssen. Heute mit google translate unvorstellbar. Was für ein Nerd.

Wie verlief dein weiterer Weg Richtung Schauspielerei?

Zunächst sollte Malen und Zeichnen die Zukunft werden. Ich habe mit 15 die Voreignungsprüfung an der Kunsthochschule in Halle mit „besonders geeignet“ bestanden. Illustrator, Schreiber oder Schauspieler, das waren meine Berufswünsche. Ich habe als Kind nie Theater gespielt und kam erst mit Anfang zwanzig in Stendal zum Theater. Zu der Zeit hatte ich nach einem Volontariat bereits als Redakteur bei einer Tageszeitung gearbeitet. Also Schreiber. Davor kamen auch zwei Leben als Zahntechniker und als Schornsteinfeger in Betracht, aber ich scheiterte glücklich in beiden.

Gab es in deinem Leben Berührungspunkte mit „Westfernsehen“ oder vielleicht sogar mit der „Lindenstraße“ schon vor deinem Einstieg?

Im Studentenwohnheim in Magdeburg haben wir heimlich im Aufenthaltsraum die „Lindenstraße“ geschaut. Damals war noch nicht dauerhaft das ARD-Logo eingeblendet, allerdings hat die Heimleiterin einmal eine Schauspielerin, es müsste Ute Mora gewesen sein, erkannt und als Strafe gab es drei Monate Fernsehverbot. Der Aufenthaltsraum zählte zum öffentlichen Bereich und dort war uns Westfernsehen strikt verboten.

Hättest du dir zu dieser Zeit vorstellen können, selbst im Westfernsehen dauerhaft aufzutreten?

Niemals. Obwohl es bereits einige Koproduktionen zwischen der DDR und der BRD gab, war es für mich eine weit entfernte Welt. Aber als die bekannte ostdeutsche Schauspielerin Monika Woytowicz plötzlich in der „Lindenstraße“ auftauchte, hatte mich das als Fünfzehnjähriger etwas verwundert.

Wie hast du als Jugendlicher das Interesse an Liebe, an Aufklärung wahrgenommen? Waren auf den Dachböden auch alte BRAVO Hefte mit dabei, und wurdest du, wie Millionen westdeutscher Teenies, vom „Dr. Sommer-Team“ aufgeklärt?

(lacht) Nein, wir waren im Osten in diesem Punkt wohl etwas freizügiger. Wir kannten durch Urlaube am FKK-Strand nackte Körper, und wenn ich damals mit Freunden tatsächlich mal eine BRAVO durchblätterte, dann war es bei uns wirklich mehr Kichern als Neugierde bei den Aufklärungsseiten. Von Oma mitgebrachte BRAVO-Hefte waren dennoch hilfreich: Poster von Madonna abfotografiert, mit Freunden in unserer Badezimmer-Dunkelkammer entwickelt und dann auf dem Soli-Basar verkauft, um das Geld zu spenden.

Wann hast du damals bemerkt, dass Jungs interessanter für dich sind?

In der Pubertät hatten wir Jungs untereinander schon das eine oder andere Experiment, verliebt war ich wohl auch mal, aber die Männer so richtig für mich entdeckt habe ich erst mit Mitte zwanzig zur Zeit der Schauspielschule. Ich hatte zum damaligen Zeitpunkt eine feste Freundin, entdeckte aber mehr und mehr die Großstadt-Kneipen für mich und durch das größere Angebot auch das gesteigerte Interesse an Männern.

„Bei Schwulenhass denke ich, es ist vielleicht auch Neid, dass ich sexuell flexibler bin.“

Hast du Anfeindungen aufgrund deiner Sexualität erlebt?

Ja, als ich an der Einfahrt zu einem Dorffest im Auto saß, hat mir jemand durch das offene Fenster einen Bierkrug gegen die Schläfe geknallt mit den Worten „Du schwule Sau“. Als ich saß! Freunde hielten ihn fest, bis die Polizei kam. Sich danach vor Gericht selbst schuldig zu fühlen und die Frage „Nehmen Sie die Entschuldigung des Angeklagten an?“ auch noch zu bejahen: das würde mir heute nicht mehr passieren. Bei Schwulenhass denke ich, es ist vielleicht auch Neid, dass ich sexuell flexibler bin. Nein, Anfeindungen bleiben, und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit verliert durch den Aufstieg der AfD ihre Hemmungen.

Foto: Holzauge Fotografie, Köln

Welche Erinnerungen hast du an den legendären schwulen Kuss (von „Carsten Flöter“ und „Robert Engel“) in der „Lindenstraße“? War es ein Befreiungsschlag für dich oder hat es dich gar nicht weiter interessiert?

Es war ein großer Befreiungsschlag. Was auch die Anfeindungen gegen Georg Uecker und die Macher der „Lindenstraße“ zeigten. Dieser Kuss hat es meinem Mann leichter gemacht, denn seine Oma sagte damals, wenn so ein netter junger Mensch wie „Carsten Flöter“ schwul ist, dann ist das eine völlig normale Sache. Dass „Lotti“ und „Carsten“ sich später viermal küssten, erfüllt mich mit Freude. Das etwas biedere Umfeld der „Lindenstraße“ hat hier also für die Akzeptanz im Alltag wirklich etwas erreichen können. Allein dadurch, dass die „Lindenstraße“ immer gesellschaftlich relevante Themen mit Menschen abbildete, die unserem Alltag entstammen könnten, konnte man sich mit den Rollen identifizieren. Ohne den Glanz und den Glamour, den zeitgleich die vielen US-Soaps versprühten, für die ich nichts übrig habe.

Lass uns über Deinen Einstieg in die „Lindenstraße“ sprechen. „Lotti“ war 2004 ein wahrer Paradiesvogel, aufgedreht, teils schrill und auch durchaus klischeebehaftet als schwuler Maskenbildner. Hat dich das nicht abgeschreckt?

Im Gegenteil, ich fand es gut. Die Zuschauer sollten durchaus denken „ach, das ist einer von denen“ - und wenn sie die Figur dann in die entsprechende Schublade gesteckt haben, war es unsere Aufgabe, ihnen zu zeigen, dass „Lotti“ auch anders ist. Somit konnten vielleicht Vorurteile abgebaut werden und „Lotti“ durfte in den inzwischen 15 Jahren auch anderes von sich zeigen. „Wie schüchtern ich im Grunde meines Herzens bin“ ließ ihn unsere Autorin Irene Fischer 2004 sagen und „Carsten Flöter“ sein erstes Urteil über „Lotti“ revidieren.

Die „Lindenstraße“ hat durch ihr Themenspektrum bis heute ein Alleinstellungsmerkmal im deutschen Fernsehen ...

In der Tat. Die „Lindenstraße“ behandelt immer wieder Themen, die unsere Gesellschaft beschäftigten. Unterhaltung mit politischer Reflexion. Und natürlich ist die „Lindenstraße“ politisch ganz klar links. Sie ist humanistisch und aufklärerisch und passt dadurch noch immer in die Zeit. Gerade jetzt. Deshalb machte mich die Absetzung auch eher wütend als traurig.

Foto: Steven Mahner/WDR

Kaum eine Serie hat so schnell auf aktuelle Themen reagiert, wie z.B. bei der Flüchtlingsthematik.

Und das zeichnet die Serie und ihre Macher aus. Beim Thema Geflüchtete bin ich auch außerhalb der „Lindenstraße“ involviert, denn meine Kollegin Sara Turchetto brachte mich 2016 zum Unterrichten: Deutschkurse für Geflüchtete. In den Jahren 2016 und 2017 habe ich an einer Akademie in Eberswalde regelmäßig Unterricht für 20 bis 25 Geflüchtete gegeben, mit ihnen interagiert, Grammatik gepaukt und auch eine Art Gesellschaftskunde vermittelt. Schauspielerei hilft beim Unterrichten übrigens sehr, das zu Lehrende und zu Lernende in spielerischem Umgang zu vertiefen. Es braucht eine sehr gründliche Vorbereitung, damit man im Unterricht nach den einzelnen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Schüler improvisieren kann.

Hast du ein Laster?

Ich rauche. Das ist ein Laster. Aber ich bin auch süchtig nach Büchern. Nach dem je zur Stimmung passenden Buch zum Einschlafen. Deshalb liegen drei bis vier parallel auf und neben dem Nachttisch oder in der Reisetasche.

Du bist seit vielen Jahren Berliner. Und du liebst seit vielen Jahren Frankreich. Könntest du dir vorstellen, die Hauptstadt zu verlassen und in der Provence deine Zelte aufzuschlagen?

Ich bin gern bei Freunden in Paris. Aber die Provence wäre mir auch zu viel Provinz und zu viel Klischeehaftes, was vielleicht ungerecht ist. Ich liebe den französischen Film, aber nicht den, der bereits im Titel Lavendelduft verströmt. Ich liebe das frühe französische Kino des Poetischen Realismus und die Nouvelle Vague. Statt Provence lieber den Pariser Mai 1968 mit den „Geraubten Küssen“. Nach dem Tod von Truffaut und dem Beginn des Cinéma du look à la Besson endet für mich die Begeisterung für die französische Filmkunst.

*Interview: Marcel Schenk


Marcel Schenk moderiert seit 2009 für diverse Radio- und Fernsehstationen. Aktuell sieht man ihn bei 1-2-3.tv (Deutschlands drittgrößtem Shoppingsender). Marcel liebt die Popmusik der 1980er Jahre und Kultserien wie „Falcon Crest“ und „Lindenstraße“. www.marcel-schenk.de

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