Anselm Weber: „Kunst darf keine Milieufrage sein“

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Foto: Birgit Hupfeld

Seit September 2017 ist Anselm Weber der neue Intendant am Schauspiel Frankfurt. Nach der ersten Hälfte der ersten Spielzeit kann er unter anderem auf Zuschauerrekorde (nahezu 97 Prozent Auslastung) blicken. Das GAB Magazin hat Anselm Weber zum Interview getroffen

Herr Weber, läuft ganz gut am Schauspiel Frankfurt, oder?

Ja, läuft ganz gut, das stimmt (lacht). Ich bin ja jetzt nicht so auf die Zahlen fixiert, muss aber natürlich auch auf die Einnahmen schauen. Es kommen einfach ein paar Sachen zusammen, wir haben das alte Publikum behalten und neues dazugewonnen, anders lässt sich das nicht erklären. Ein Phänomen, über das ich gerade mit vielen Leuten rede, was das vielleicht sein könnte.

Was könnte es denn sein?

Da muss man sich rantasten, da gibt’s keine Wahrheiten. Es hat sicher etwas damit zu tun, dass Theater in einer Zeit, die insgesamt sehr unsicher ist, ein Ort der Selbstvergewisserung in der Gesellschaft ist. In Zeiten des Umbruchs hat das Theater schon immer an Relevanz gewonnen, weil das Theater immer ein Referenzraum von Gesellschaft darstellt.

Neben aktuellen Themen und Stücken werden auch viele Klassiker wie Kafka, Büchner oder Shakespeare gespielt, wie kommt das?

Theater ist immer auch ein Raum der Empathie, mit Fragen, die etwas mit den Menschen zu tun haben. Möglicherweise ändert sich das Umfeld, aber die Fragen bleiben immer gleich: Wie erlebt man Macht, was ist Narzissmus, was bedeutet Freiheit, sexuell oder auch in theoretischen Bereichen. Zum Beispiel Richard III mit der Frage nach dem Narzissten in der Politik. Wir dachten, wir sind in einem Momentum des Rationalen, des Klugen, des Ausgewogenen, oder werden zumindest dahinkommen, aber das Gegenteil ist der Fall! Und dann ist Richard III plötzlich wieder aktuell. In der Inszenierung kommt das Bühnenbild hinzu, ein offener Raum, fast wie ein demokratisches Forum mit einer Spielfläche in der Mitte. Das haben die Frankfurter auch als Zeichen verstanden: Das ist eine Einladung an die demokratische Stadt. Es ist ja auch eine kluge Stadt hier! In der Wahrnehmung ist Frankfurt eine sehr offene, sehr schnelle, vor allem im Diskurs eine sehr präzise Stadt. Und es sind ja komplexe Themen, die wir zeigen. Unter den 22 Inszenierungen hatten wir nur eine ausgewiesene Komödie. Neben der Qualität der Inszenierungen, von der ich fest überzeugt bin, und natürlich der Großartigkeit der Schauspieler, müssen solche Faktoren, über die wir geredet haben, eine Rolle spielen.

Wenn Theater von Diskurs oder Auseinandersetzung sprechen, denke ich oft, hier kommt ja bloß ein „exquisites“ Publikum hin, da entsteht nicht allzu viel Reibung, oder?

Das mag zum Teil stimmen, aber unterschätzen Sie das nicht! Was das Publikum betrifft: Wenn man in eine Aufführung reingeht, vielleicht nicht bei der Premiere, aber sonst, sieht man Leute aus allen Schichten, jedes Alter, sehr gemischt. Selbst Leute aus anderen Städten wundern sich, wie jung unser Publikum ist. Und mit unserem Jugendprojekt „All Our Futures“ zum Beispiel versuchen wir ein Zeichen zu setzen und verlassen ganz bewusst unseren „Elfenbeinturm“ – oder wie man die Orte der Hochkultur nennt – und gehen in die Schulen, also einen Ort, wo man Theater erst mal nicht anzutreffen vermutet. Kultur darf keine Milieufrage sein!

Erzählen Sie doch bitte von diesem Projekt.

„All Our Futures“ ist das größte kulturelle Bildungsprojekt, das ein Stadttheater momentan macht. Wir sind über drei Jahre an neun sehr unterschiedlichen Frankfurter Schulen, wo wir mit Frankfurter Künstlerinnen und Künstlern gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern regelmäßig als Wahlfach im Unterricht über Zukunft sprechen. Und das Besondere dabei ist, dass es eben kein Lehrplan ist, sondern wirklich die Frage der Zukunft und der Identität, die wir mit den Jugendlichen vor Ort besprechen und daraus etwas entwickeln.

Da es über drei Jahre läuft und eine Regelmäßigkeit hat, ist es mehr als ein Workshop, es werden bestimmte Formen des Zusammenarbeitens entwickelt.

Im ersten Jahr bleibt das Projekt im jeweiligen Stadtteil, im zweiten Jahr verbinden sich diese Stadtteile miteinander, und im dritten Jahr soll es dann eine große Inszenierung geben, die hier im großen Haus gezeigt wird.

Zwischendurch zeigen die Jugendlichen einander in sogenannten Try-Outs die Arbeiten, so dass man am Prozess der anderen teilhaben kann.

Und da kommen sehr viele Sachen zusammen: Zum Beispiel, dass viele Schüler zu anderen schulischen Einrichtungen Kontakt bekommen, was sie sonst im Alltag nicht so einfach haben; ein Gymnasiast trifft außer vielleicht beim Sport in der Regel keinen anderen Schüler aus einer anderen Schulform.

Eine Folge dessen ist, dass Jugendliche einfach merken, dass die Frage der Selbstbestimmung oder die Frage nach der eigenen Identität mit künstlerischen Mitteln durchaus ein Weg ist, Antworten zu finden. Die Resonanz, besonders bei den Schulleiterinnen und -leitern, ist riesig; sie sagen, dass das genau das ist, was ihnen fehlt. Wo sonst sollen sie in so einer Stelle versuchen, so etwas wie Integration oder Inklusion anzubieten?

Was dem Ganzen zugrunde liegt, und das ist eine tiefe Überzeugung von mir: Kultur kann keine Milieufrage sein! Das finde ich einfach ganz entscheidend.

Und bei den ganzen Diskussionen, die wir hier führen, müssen wir uns auch klar darüber sein, dass unser Kulturbegriff ja nur ein Erlernter oder Angelernter ist. Jeder von uns hat durch seine Eltern und das soziale Umfeld einen bestimmten Kulturbegriff vermittelt bekommen, der sich auch ständig wandelt.

In diesem Rahmen geht es darum, zu fragen, was heißt Kultur für diese Jugendlichen? Was bedeutet eigentlich Identität? Was ist meine Identität? Das ist ja Kultur! Und das ist ja ein ganz anderer Ansatz als – ich will das Wort gar nicht aussprechen – also wenn wir so etwas wie in Anführungszeichen „Leitkultur“ lehren würden!

Es ist vielleicht angebracht, sich selbst in Frage zu stellen!

Ja, genau! Wir haben zum Beispiel auch diese Reihe „Denkraum“. Und dabei merke ich, dass das Bedürfnis der Menschen zu reden extrem hoch ist. Das muss ja nicht immer zielorientiert sein, im Sinne, dass man am Ende des Tages eine Lösung hat, das können wir auch gar nicht. Aber das Bedürfnis der Menschen sich mitzuteilen oder darüber zu reden, was sie erleben, wie sie Wirklichkeit gerade erleben, und das gerade auch bei jungen Leuten, das ist wirklich viel höher als wir das im allgemeinen annehmen. Ich glaube, dass gerade bei den nachfolgenden Generationen eine Menge Redebedarf im Raum ist!

Was kann denn Theater als Medium oder Ort, was andere nicht können?

Ich frag das mal anders rum: Wie viele analoge Orte gibt es noch, an denen live und gemeinsam eine Emotion oder ein Gedanke erlebt werden kann? Und mit Stichwörtern wie Social Media, Digitalisierung und Vereinsamung: Kann es sein, dass das Theater vielleicht einer der letzten, sogenannten „analogen Orte“ ist, an dem das stattfindet? Ist das der Grund, wieso Theater so eine große Bedeutung bekommt und es so ein großes Bedürfnis danach gibt? Das wäre eine These von mir.

Auf was freuen Sie sich noch in dieser Spielzeit?

Worauf ich gespannt bin, weil wir ja hier auch über Frankfurt reden wollen: Meine Chefdramaturgin Marion Tiedtke und ich haben ein Projekt entwickelt, das heißt „Stimmen einer Stadt“. Neun Autorinnen und Autoren verfassen Texte zu Biografien von ausgewählten Menschen aus Frankfurt, also zum Beispiel einer Flugbegleiterin oder einem Hotelier. Das Projekt läuft über drei Jahre, und am Ende hat man neun Texte, wie ein Kaleidoskop. Im Mai werden wir die ersten drei Monologe hören. Das ist sehr frankfurtspezifisch! Denn ein zentraler Punkt in meiner Arbeit ist, dass ich das Wort „Stadttheater“ sehr wichtig nehme. Ich mache Theater für die Stadt. Für und mit den Leuten. Und es geht mir schon darum, hier eine Realität abzubilden. Das finde ich wichtig!

www.schauspielfrankfurt.de

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