ZWISCHEN DEN ZEILEN: „Warum macht ihr nichts?!“

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„Ich hab‘ noch keinen einzigen Traum wahr werden sehen auf der Christopher Street“, lässt Roland Emmerich einen Protagonisten in seinem „Stonewall“-Epos von 2015 sagen, damit das Publikum mit dem Kenntnisstand der Nachgeborenen wissend in sich hinein schmunzeln kann.

Denn wenige Tage darauf findet in der Chronologie des Films in einer schwülen New Yorker Nacht des ausgehenden Juni des Jahres 1969 mit dem Aufstand vor dem Stonewall Inn in eben jener Straße das Ereignis statt, das zum Ausgangspunkt einer weltweiten Emanzipationsbewegung von Lesben, Schwulen, Transgendern und Queers wurde.

Foto: Jessica Purkhardt

Seitdem erinnern wir uns mit unterschiedlichen Veranstaltungsformaten in den Sommermonaten daran, entweder in Anspielung auf den Geburtsort der Bewegung als „Christopher-Street-Day“ oder auf den damals auf immer mehr Lippen laut gewordenen Schlachtruf „Gay Pride“ und erneuern alljährlich unsere Forderungen nach Akzeptanz und Gleichstellung und dem Ende von Diskriminierung und Ausgrenzung.

Wissenswert ist dabei, dass heute wie damals die Diskussionen um den richtigen Weg zur Erreichung dieser Ziele geführt werden.

Man werde als Homosexueller am ehesten akzeptiert, wenn man Anzug und Krawatte trage, meinten die, die ihre Rechte politisch und juristisch erstreiten wollten. Doch waren es erst die unangepassten Queers, die den Stein wirklich ins Rollen brachten.

Damals wie heute liegt die Wahrheit vermutlich irgendwo dazwischen. Wo genau verhandeln wir jeden Sommer wieder neu.

„Warum macht ihr nichts?!“…

...rief die wehrhafte Lesbe in der Nacht des 28. Juni 1969 der umstehenden Menge vor dem Stonewall Inn zu, während sie trotz Handschellen tapfer vier Polizeibeamten gleichzeitig Unwiederholbares fluchend und auskeilend den Trotz bot, so dass der Versuch sie in den Streifenwagen zu manövrieren über zehn Minuten fern vom Gelingen blieb.

Nicht dass die LGBT-Emanzipationsbewegung genau dieses Satzes bedurft hätte um groß, stark und solidarisch zu werden und neben dem theoretisch-akademischen Wirkungskreis endlich auch einen praktischen zu schaffen.

Aber in dieser Nacht war er der Auslöser für die Menschentraube der gerade der Razzia entkommenen Gäste des Stonewall Inn und zugeströmten Passant*innen, die ohnehin glühend bereit waren sich für Demütigung, Ausbeutung, Gewalt und Ausgrenzung zu revanchieren. Denn er mag ihnen wohl unmittelbar die Erkenntnis vor Augen geführt haben, dass die und der Einzelne trotz aller Zähigkeit ohne solidarisches Handeln der anderen immer auf der Strecke bleiben wird. Selbst in dieser Nacht in der Christopher-Street, wo die Uniformierten als Stellvertreter der homophoben Mehrheitsgesellschaft in der Minderheit waren.

Den folgenden, mehrere Nächte dauernden Aufstand im New Yorker Greenwich Village zu einem durchgängigen Akt der Solidarität zu verklären ist Legendenbildung. Denn in diesen Tagen entlud sich dort und in anderen Städten, später sogar in anderen Ländern Frust durch Gewalt. Ein Phänomen, das es bekanntermaßen in allen Zeiten davor und danach auch schon gegeben hat.

Doch nur der winzigste Teil all jener Auflehnungen hat die Phase des handgreiflichen Widerspruchs so schnell hinter sich gelassen und ist dabei trotzdem über Generationen zivilgesellschaftlich und politisch so erfolgreich geblieben wie die LGBT-Bewegung.

Foto: Jessica Purkhardt

Wir wollen aber nicht vergessen, dass die Geschichte immer von den Siegern geschrieben wird. Auch hier. So stößt man bei der Auseinandersetzung mit Zeitzeugenberichten des Stonewall-Aufstandes und ähnlicher Begebenheiten wie vor dem Cooper Do-nuts Cafe in Los Angeles ein Jahrzehnt zuvor oder dem Comptons’s Cafeteria-Aufstand in San Francisco im Jahr 1966 schnell auf Sagenhaftes und Verklärung.

"Wir sind so stark, wie wir einig, und so schwach, wie wir gespalten sind." (Joanne K. Rowling, Harry Potter und der Feuerkelch)

Was uns heute, die wir in Westeuropa keine Übergriffe der Staatsgewalt mehr fürchten müssen und nicht mehr von Strafe für unser Lieben und selbstbestimmtes Leben bedroht sind, mit den Geschehnissen jener schwülen New Yorker Nacht des ausgehenden Juni des Jahres 1969 verbindet, ist nachweislich keine Geschichte der Ausschreitungen. Vielmehr ist es die viel wertvollere Gemütsäußerung der Solidarität, die uns durch die Jahrzehnte gemeinsam getragen hat und mit deren Hilfe wir auch 60 Jahre nach den Anfängen der Lesben-, Schwulen-, Bi- und Trans*-Bewegung noch gemeinsam CSDs begehen.

Dabei ist es wichtig, uns immer wieder zu vergegenwärtigen worum es geht. Nämlich nicht darum gemeinsam CSDs zu feiern, sondern bei aller Unterschiedlichkeit vor allem für die Belange der und des jeweils anderen solidarisch einzustehen. Denn gerade jetzt, wo einige LGBT* mit der gesetzlichen Durchsetzung der Ehe für alle einen großen Erfolg errungen haben, stehen andere weit dahinter zurück. So werden Transsexuelle heute noch immer mit einem über drei Jahrzehnte alten, wissenschaftlich längst überholten und in der Praxis demütigenden Gesetz gegängelt. Gleichzeitig besteht die Stigmatisierung HIV-Positiver in der Gesellschaft und sogar innerhalb der Community weiter fort.

Beide beispielhaften Personengruppen sind aber für sich genommen zu klein, um die Gewährleistung ihrer Menschenrechte wirkungsvoll einfordern zu können und sich gegen Ausgrenzung und Diskriminierung effektiv zu schützen.

Das „Warum macht ihr nichts?!“ aus der Nacht vor dem Stonewall gilt also auch heute noch den Menschen, die mit uns zusammen zum Beispiel CSDs feiern und mit denen wir auch den Rest des Jahres gemeinsam die Regenbogen-Community bilden. Auf deren solidarische Intervention als Masse wir angewiesen sind, wenn Einzelnen Unrecht geschieht und ihnen selbstbestimmtes Lieben und Leben verwehrt wird.

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