Berlin idiosynkratisch • Schöneberg

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Foto: Screenshot duden.de

Deutschlands Hauptstadt hat – nicht nur im Ausland – in vielerlei Hinsicht den Ruf eigentümlich zu sein. Unsere neue Kurzserie von Stadtspaziergängen durch die Kieze für Berliner*innen und solche, die es zeitweise sein wollen.  In der ersten1 Tour durch den Regenbogenkiez Schöneberg geht es um modernste Technik, Umweltverschmutzung, kosmopolitische Türken und boxende Frauen sowie eine ganz besondere Großstadtoase.

Die technisch modernste Metropole

Hinter der bombastischen Klinkerfassade im Backsteinexpressionismus an unserem Startpunkt in der Winterfeldtstraße 21, verbarg sich ab 1929 das modernste und größte Fernamt Europas. Frauen und Technik schlossen sich damals nicht aus, eher das Gegenteil: denn es war saubere und somit auch für bürgerliche Frauen standesgemäße Arbeit. In den 12 Sälen für die Handvermittlung, Telefonauskunft sowie eine elektromechanischen Ortsvermittlung waren 1.140 Frauen und nur 17 Männer beschäftigt. 

Es gab neben der Vermittlung natürlich auch weitere Dienste wie ein Telegrafenamt und die Damen sollten den Anrufern auch die genaue Uhrzeit mitteilen. Ein Service, der so sehr in Anspruch genommen wurde, dass eine Automatisierung des gesamten Ablaufs notwendig wurde. 1935 ging das in Deutschland erste automatische Zeitansagegerät von Siemens & Halske versuchsweise in Betrieb. 

Der Berliner verschwendet nicht gerne etwas, also wurde das Amt, nach der Umstellung aller Telefonanschlüsse auf Selbstwahl, zur Zentrale für den technischen Ablauf der Reportagen von den Wettkampfstätten zu den in- und ausländischen Rundfunkanstalten während der Olympischen Spiele 1936 umgebaut.


Ungewöhnliche Architektur am Winterfeldtplatz

Gehen wir weiter zum Winterfeldtplatz und dann von dort zur Pallasstraße, sehen wir zwei Gebäuden eines Berliner Originals.  Das Wohnhaus Winterfeldtstraße 39 und die Lilli-Henoch-Sporthalle der Spreewald-Grundschule mit Kita an der Ecke zur Pallasstraße sind architektonisch sehr eigenwillige Gebäude.

Foto: Uwe Thobae / gemeinfrei

Sie folgen keiner zeitgenössischen Hauptströmung und sind typisch für den einzigartigen Stil des Architekten Hinrich Baller (geb. 1936), den man an vielen Stellen in Berlin entdeckt, der aber in der baulichen Umsetzung auch immer wieder an die Grenzen des Machbaren stieß. So leider auch bei der Sporthalle, deren Dach undicht und die gesamte Anlage deshalb unbenutzbar blieb. Der Name der Halle erinnert an die jüdische Ausnahmesportlerin Lilli Henoch, die zwischen 1922 und 1926 zehnmal deutsche Meisterin in verschiedenen Leichtathletikdisziplinen und vierfache Weltrekordlerin war. Sie spielte außerdem Hockey und Handball. 1942 wurde Lilli Henoch auf dem Weg ins Rigaer Ghetto von den Nazis ermordet. Sie wurde posthum in die International Jewish Sports Hall of Fame aufgenommen. 

Foto: m*

Von diesem Standort aus sieht man übrigens eine der weiteren Nutzungen des alten Fernamtes vom Startpunkt: den Sendemast, Sender Berlin-Schöneberg. Nach dem 2. Weltkrieg zogen dort neben dem Funkamt auch die Westalliierten ein. Erst der Vorläufer des RIAS und dann auch die Briten, die allerdings weniger Öffentliches im Sinn hatten: sie hörten bis zu ihrem Abzug von hier aus die Telefone der halben Stadt ab. Aber auch heute noch hat der Sender internationalen Bezug, von hier senden unter anderem Radio France Internationale und Radio Russkij Berlin.

Hochbunker und Legenden 

An der Pallasstraße steht einer der sechs Hochbunker Berlins aus der Zeit des 2. Weltkrieges. Er wurde von Zwangsarbeitern hauptsächlich aus Russland zum Schutz von Technik und Personal des Fernamtes gebaut, wurde aber nie fertig.

Die Rote Armee erreichte Berlin früher und nahm dann auch gleich einen Großteil der Technik in die UdSSR mit. Dort war sie bis in die 1960er in Nutzung. Gebaut war das Bunkergebäude allerdings so solide, dass selbst mehrere Sprengversuche keinen Schaden anrichteten. Bei noch stärkeren Versuchen hätte man die anderen Gebäude in der Umgebung beschädigt. Also wurde der Bunker – ganz berlinpragmatisch – zur größten Zivilschutzanlage der Stadt aus- und Teile des Palleseums drüber gebaut.

Cineasten werden diesen Teil unseres Spazierganges in Erinnerung haben: Teile von „Der Himmel über Berlin“ wurden hier gedreht. Heute ist er ein Denkmal.

Foto: Gunnar Klack / CC BY-SA 4.0 / wikimedia.org

Auch das Pallasseum steht auf geschichtsträchtigem Grund. Hier war früher der Berliner Sportpalast mit seinen zahlreichen Großveranstaltungen: 

Aber natürlich ging es im Sportpalast in erster Linie um Sport, so war die Hallenkunsteisbahn 1910 weltweit die größte ihrer Art und Boxlegende Max Schmeling stand dort im Ring. 

Marlene und der „schreckliche Türke“

Überhaupt war Boxen in den 1920ern in: Sabri Mahir, genannt der „schreckliche Türke“, hatte ein Boxstudio in der Passauer Straße. Im „Sportschuppen“ hielten sich prominente Frauen wie Vicki Baum und Marlene Dietrich fit und wurden von Mahir auch im Boxen unterrichtet. Es gab die „Teestunde am Ring“, bei der sich Dichter im Ring vor Zuschauern – ähnlich moderner Rap-Battle – intellektuell maßen. Berthold Brecht war hier ebenfalls gerne zu Gast.

Ein für damalige Verhältnisse unerhörtes Konzept, das aber zum Betreiber passte. Mahir war ursprünglich Fußballer bei Galatasaray İstanbul, dann Kunststudent in Paris, während des ersten Weltkriegs Boxer im Zirkus, seine Spur verlor sich nach den wilden 1920ern. 

Zum Botanischen Garten 

Botanischer Garten? Ist das nicht etwas sehr weit für einen kleinen Stadtspaziergang, mag der oder die eine oder andere ortskundige Leser*in denken. Die Potsdamer Straße nach Süden geht es zum Kleistpark, vorbei an den ehemaligen Räumen des Drugstore, dem ältesten selbstverwalteten Jugendzentrum Berlins.

Der Kleistpark war ursprünglich der Hof- und Küchengarten der Hohenzollern, später der erste Botanische Garten Berlins. Aber Ende des 19. Jahrhunderts wuchs Schöneberg so stark, dass es zu Platzproblemen kam. Vor allem aber, plagten die Pflanzen noch heute sehr vertraute Probleme: die zunehmende Luftverschmutzung und eine Grundwasserabsenkungen schadete ihnen massiv. Bei der Umgestaltung zum Park wurden die Königskolonnaden von der Königsbrücke am Alexanderplatz hierhin versetzt, auch aus einem sehr modernen Grund: sie störten den immer stärker werdenden Verkehr in Mitte. 

Foto: m*

Das Kammergericht auf der gegenüberliegenden Seite des Parks gilt als das älteste deutsche Gericht mit ununterbrochener Tätigkeit. Es wurde 1468 gegründet und zog 1913 in das Gebäude am Kleistpark ein. Hier fanden die Schauprozesse gegen die Beteiligten vom Attentat des 20. Juli 1944 statt und hier wurde auch das Viermächteabkommen unterzeichnet.

Im Kalten Krieg gab es nur zwei Institutionen, in denen alle vier alliierten Mächte zusammenarbeiteten. Eine davon befand sich in diesem Gebäude: die Luftsicherheitszentrale Berlin. Hier wurden ironischerweise auch die Flüge der Rosinenbomber während der Berlin-Blockade beim russischen Besatzer angemeldet. Dieses schöne Gebäude wurde unter anderem für Babylon Berlin als Kulisse genutzt. 

Zum queeren Friedhof

Foto: J. Jackie Baier

Zu unserem abschließenden Highlight geht es von den Kolonnaden aus weiter die Potsdamer Straße nach Süden und dann links in die Großgörschenstraße. Nicht von der scheinbaren Unpassierbarkeit an der Kreuzung Kulmer Straße beeindrucken lassen, weiter geradeaus und an der Mansteinstraße unter der S-Bahn durch zum Alten St. Matthäus-Kirchhof

Ein wunderschöner Friedhof auf dem bekannte, wie die Gebrüder Grimm, Rio Reiser, Rudolph Virchow, Napoleon Seyfarth u.v.m. und weniger bekannte Menschen begraben sind. Man sollte ihn unbedingt erkunden. Das Friedhofscafé Finovo ist das erste Friedhofscafé Deutschlands und wird von Polittunte Ichgola Androgyn betrieben. Mehr Informationen zum Friedhof und dem Verein, der sich ehrenamtlich um viele der queeren Gräber kümmert findest du HIER.

Am Ende sollte nicht unerwähnt bleiben, dass auch Rudolph Virchow einen schwulen Bezug hat. Er war als Ausschussleiter am historischen Gutachten beteiligt, dass sich gegen §175 wendete – wohl auch beeinflusst durch Karl Heinrich Ulrichs. Die Mediziner sahen sich außerstande, 

„irgend welche Gründe dafür beizubringen, dass, während andere Arten der Unzucht vom Strafgesetze unberücksichtigt gelassen werden, gerade die Unzucht mit Thieren oder zwischen Personen männlichen Geschlechts mit Strafe bedroht werden sollte.“

Möglicherweise war seine Beteiligung aber nicht unbedingt eine Hilfe, denn mit Otto von Bismarck verband den politisch sehr aktiven Mediziner, der sogar in der Märzrevolution Barrikaden baute, eine innige politische Feindschaft, die auch in folgendem Schlagabtausch klar wird. So sagte Virchow zu Bismarck,

er vermisse beim Ministerpräsidenten auch nur das leiseste Verständnis für nationale Politik und Bismarck entgegnete, er könne diesen Vorwurf unter Weglassung des Wortes national nur zurückgeben.

Dem Duell, zu dem Bismarck ihn aufforderte, verweigerte er sich aber. 

Soviel Geschichte und Anekdoten verdaut man* am besten bei einem leckeren Stück Nussnougat-Torte in Ischgolas Café, die verehrte Leserschaft mache sich derweil fit für den nächsten Teil von Berlin idiosynkratisch.


1 der zweite Schöneberg-Entdeckungsrundgang folgt zeitnah

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