DAS TABU

Foto: HT

Am eigenen Leib konnte die Redaktion in der Vorbereitung auf den HIV-Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe erfahren, was es wohl heißt, in Deutschland HIV-infiziert zu sein. Nicht, weil wir einen Feldversuch gestartet hätten oder eigene Erfahrungen teilen wollten. Nein, wir wollten nur offen darüber reden. Pustekuchen. Totschweigen, Ausweichen, so die Reaktionen.

Als Leitfaden für den Schwerpunkt hatte sich die Reaktion das Thema Stigmatisierung gesetzt. Stigmatisierung ist laut Aidshilfen heute ein Problem, das HIV-Positiven mehr zusetzt als die eigentliche Infektion. Psychischer Stress und soziale Vereinsamung sind nur zwei Auswirkungen davon. Rund zehn Prozent der HIV-Positiven geben an, wegen drohender zwischenmenschlicher Probleme beim offenen Umgang mit ihrer Infektion keinen Sex mehr zu haben. Die Redaktion wollte wissen, was Positiven sonst noch alles widerfährt. Gibt es Probleme bei Ärzten? Immer wieder ist zu lesen, dass zum Beispiel Zahnärzte die Behandlung verweigern, wenn sie von der HIV-Infektion des Patienten erfahren. Gibt es Probleme im Job? Auch im Berufsleben soll es immer wieder vorkommen, dass ein Positiver aus Unwissenheit, wegen Vorurteilen diskriminiert wird – bis hin zum Jobverlust beziehungsweise einer nicht vollzogenen Einstellung.

Dies wollte die Redaktion von den Lesern wissen. Also fragten wir über PlanetRomeo, Twitter und Facebook nach den Erfahrungen von HIV-positiven Lesern. Wir bekamen nicht eine einzige Antwort. So groß ist offenbar die Angst, sich als Positiver zu outen, dass nicht einmal die anonymisierte Äußerung über ein schwules Magazin in Erwägung gezogen wird. Zum Thema Drogen haben wir schon erfolgreich gefragt, Sexpartys sind kein Tabu. Selbst HIV ist so lange ein Gesprächsthema, wie es nur andere trifft – unsere Umfrage zum Thema Testverhalten jedenfalls war ein großer Erfolg. Geantwortet hatten aber nur Leser, die beim Test ein negatives Ergebnis bejubeln konnten.

Hallo? Eine HIV-Infektion ist sicher keine schöne Sache, aber sitzt die Angst wirklich so verdammt tief, dass man am besten gar nicht drüber redet? Das Münchener Interdisziplinäre HIV Zentrum am Klinikum rechts der Isar und die Deutsche Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Ärzte in der Versorgung HIV-Infizierter e. V. mit finanzieller Unterstützung der Firma AbbVie Deutschland versuchen, ganz grundsätzlich und wissenschaftlich an das Problem heranzugehen und eine „Deutsche HIV-Stigma Skala“ zur Erfassung des Ausmaßes verschiedener Ebenen von Stigmatisierung bei Menschen mit HIV zu erstellen.

•Christian Knuth

HINTERGRUND

Was die Redaktion erlebt hat, ist kein Einzelfall. Und trotz der zentralen psychosozialen Bedeutung von Stigmatisierung gibt es kein spezifisches deutschsprachiges Erhebungsinstrument zur Verwendung im klinischen und wissenschaftlichen Alltag. Der Begriff „Stigmatisierung“ wird oft inflationär und unpräzise verwendet, beispielsweise ohne eine Unterscheidung zu den Konstrukten Diskriminierung oder Depressivität vorzunehmen. Nur eine spezifische und distinkte Erfassung der unterschiedlichen psychosozialen Phänomene erlaubt eine zielgerichtete biopsychosoziale Versorgung und ein umfassendes wissenschaftliches Verständnis.

ZIELE UND ANFORDERUNGEN

Ziel der „Deutschen HIV-Stigma Skala“ ist die Messbarkeit von Stigmatisierung in Bezug auf „erlebte Stigmatisierung“, „negatives Selbstbild“, „Offenbarungsangst“ und „Sorgen über die öffentliche Meinung“ und somit die Möglichkeit der Diagnosestellung, Therapie und wissenschaftlichen Anwendung. Hierfür wurden bestehende Screening-Instrumente (beispielsweise die häufig verwendete US- amerikanische HIV Stigma Scale) kombiniert, weiterentwickelt und validiert, um die wissenschaftliche und klinische Implementierung eines Fragebogens für Menschen mit HIV speziell für Deutschland zu ermöglichen. Die Validierung des HSS-D ist voraussichtlich Ende 2015 abgeschlossen, um dann als klinisches und wissenschaftliches Routineinstrument für die Erfassung unterschiedlicher Ebenen von Stigmatisierung in Bezug auf Menschen mit HIV eingesetzt zu werden. Vielleicht wird das Tabu HIV-Infektion dann ein nicht mehr ganz so großes sein. Wenn schon nicht gegenüber Medien, dann doch zumindest gegenüber dem behandelnden Arzt. •ck

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