Orbáns verhasstes Kinderbuch auf Deutsch erschienen

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Das umstrittene ungarische Kinderbuch „Märchenland für alle“ ist seit 17. März auch auf Deutsch im Handel erhältlich. Unter anderem die Veröffentlichung dieses Märchenbuchs führte zur Einführung eines sogenannten Kinderschutzgesetzes in Ungarn, worüber am 3. April in einem Referendum abgestimmt wird. 

„Meseország mindenkie“, herausgegeben von dem Autor und Übersetzer Nagy M. Boldizsar in Zusammenarbeit mit der Organisation Labrisz Lesbian Association, sorgte bei Veröffentlichung im Herbst 2020 für Unmut in Ungarn. Denn alle Held*innen im Buch gehören einer marginalisierten Gruppe an – die Geschichten erzählen von Menschen mit Behinderung, von armen, alten oder anders stigmatisierten Menschen, von ethnischen Minderheiten wie Roma und auch von der LGBTIQ*-Community. So handelt eine Geschichte von einem schwulen Prinzen, in einer anderen wird Aschenputtel als lesbische Liebesgeschichte neu erzählt und wieder in einer anderen kommt ein transidenter Drachentöter vor.

Den Autor*innen ging es darum, Akzeptanz für benachteiligte Menschen zu schaffen. Zum Vorschein brachte die Veröffentlichung zunächst nur die Intoleranz kleinerer Teile der ungarischen Bevölkerung und den Hass von Politiker*innen aus dem konservativen und rechtsextremen Lager. Eine Online-Petition der queerfeindlichen Lobbygruppe CitizenGO forderte, das Buch aus den Buchläden zu entfernen, und erhielt mehr als 80.000 Unterschriften. Dóra Dúró, Abgeordnete der rechtsextremen Partei „Unser Vaterland“, riss während einer Pressekonferenz Seiten aus dem Buch heraus und schredderte sie öffentlich (männer* berichtete). 

Buch wurde Bestseller

Der Hass, der dem Buch entgegenschlug, und die mediale Aufmerksamkeit hatten einen gegenteiligen Effekt: Das Buch wurde ein Bestseller. Die erste Auflage war sofort ausverkauft, drei weitere Auflagen folgten. Verlage in ganz Europa wollten das Buch übersetzen. So auch der stern. Nachdem das Magazin (Verlagshaus Grunder + Jahr) im vergangenen Juli über die politische Situation in Ungarn berichtet hatte, entschloss sich die Redaktion, das Märchenbuch auf den deutschsprachigen Markt zu bringen, und erwarb die Rechte für Deutschland, Österreich und die Schweiz. 

„Denn es ist gut, nicht der Norm zu entsprechen“, schreibt stern-Chefredakteurin Anna-Beeke Gretemeier im Vorwort. „Es ist gut, anders und vielfältig zu sein. Es sollte für jeden Menschen selbstverständlich sein, das eigene, authentische ,Ich‘ leben zu können, ohne sich zu verstellen.“ Es lohne sich, für dieses Verständnis zu kämpfen und früh damit zu beginnen, so Gretemeier weiter. „Kinder sind unvoreingenommen. Sie hören zu und nehmen auf. Daher ist es wichtig, ihnen gegenüber nicht darauf hinzuweisen, was besonders ist, sondern wiederzugeben, was normal ist.“

Auszüge aus dem Buch wurden bereits im Magazin veröffentlicht. Seit 17. März ist das Buch – herausgegeben vom stern, erschienen im Verlag Dorling Kindersley – auf Deutsch erhältlich. 180 Seiten kosten 16,95 Euro. Mit dem Erlös sollen auch die ungarischen Aktivist*innen unterstützt werden. 1 Euro pro Buch will die Stiftung stern für Diversitätsprojekte und für mehr Vielfalt in Ungarn spenden.

Referendum am 3. April

Die Debatten rund um das Kinderbuch führten im Juli 2021 zur Einführung eines LGBTIQ*-Gesetzes zum Verbot von „Werbung“ für Homo- und Transsexualität. Bücher, die queere Lebensentwürfe thematisieren, müssen in Ungarn seither mit dem Hinweis „Verboten für unter 18-Jährige“ versehen werden, Filme zu diesem Thema dürfen nicht mehr zu Hauptsendezeiten ausgestrahlt werden. Offiziell erklärtes Ziel der Regierung ist der Schutz von Minderjährigen, Aktivist*innen sprechen von einem Schlag gegen die LGBTIQ*-Community (männer* berichtete).

Die EU hatte als Reaktion auf das Gesetz ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Budapest eingeleitet, woraufhin Budapest ein Referendum ankündigte. Dieses findet nun am 3. April im Zuge der Parlamentswahlen in Ungarn statt. Dann werden den 7,8 Millionen ungarische Wähler*innen laut Ungarn Heute folgende vier Fragen gestellt:

Umfragen im August 2021 ergaben, dass die ungarische Bevölkerung mehrheitlich gegen Orbáns homophobe Gesetze ist (männer* berichtete). 90 Prozent der Befragten gaben an, dass in den Schulen eine altersgerechte Sexualerziehung stattfinden sollte und dass es den Eltern und dem Lehrpersonal und nicht der Regierung überlassen bleiben sollte, was in diesem Bereich gelehrt wird. Unklar ist, ob und wie sehr sich die öffentliche Meinung diesbezüglich geändert hat. Es bleibt also spannend.

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