#Video • Schweiz sagt JA: Reaktionen und Hintergründe

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Die Schweiz legalisiert die gleichgeschlechtliche Ehe: Beim Volksentscheid am Sonntag sprachen sich 64,1 Prozent der Wahlberechtigten für die Ehe für alle aus. Der Schweizer Bundesrat kündigte eine rasche Umsetzung der neuen Bestimmungen an. Voraussichtlich zum 1. Juli 2022 soll das Gesetz in Kraft treten.

Von den Verfechtern der gleichgeschlechtlichen Ehe wurde das Ergebnis vielerorts als „historisch“ gefeiert. „Das ist ein Tag des Feierns, des Sieges nach achtjähriger Kampagne“, sagte Deborah Haenni von der Vereinigung Libero, die das „Ja“ propagiert hatte. Indem die Schweiz nun gleichgeschlechtliche Ehen erlaube, gleiche sie sich anderen Ländern hinsichtlich Offenheit und Fortschritt an, sagte Haenni.

Justizministerin Karin Keller-Sutter sagte , das neue Gesetz werde voraussichtlich zum 1. Juli 2022 in Kraft treten: „Ab diesem Zeitpunkt sollen gleichgeschlechtliche Paare zivil heiraten dürfen.“ Eingetragene Partnerschaften könnten ab diesem Zeitpunkt in Ehen umgewandelt werden. Das Ja zur Ehe für alle sei „eine Form der Anerkennung durch die Gesellschaft“, sagte die Ministerin. Der Staat solle Menschen nicht vorschreiben, wie sie ihr Privatleben zu gestalten haben.

Foto: Fabrice Coffrini / AFP

Lucas Ramón Mendos und Daniele Paletta von ILGA-World kommentieren: „Letztendlich wirkt sich die Gleichstellung der Ehe auf die Gesellschaft als Ganzes aus: Sie nimmt niemandem Rechte weg – sie öffnet diese Rechte nur für mehr Menschen. Und mehr Gleichheit führt zu einer gerechteren, stabileren Gesellschaft.“

Schweiz und Schwule: Eine lange Geschichte

Seit 1942 wird Homosexualität in der Schweiz nicht mehr bestraft. Allerdings führten zahlreiche regionale Polizeistellen teils noch bis in die 1990er Jahre sogenannte „Schwulenregister“. Seit 2007 war für gleichgeschlechtliche Paare in der Schweiz eine eingetragene Lebenspartnerschaft möglich. Pro Jahr wurden etwa 700 solcher Partnerschaften geschlossen. Die gleichen Rechte wie eine Ehe, etwa hinsichtlich Fragen von Staatsbürgerschaft oder der Adoption von Kindern, bot eine solche Lebensgemeinschaft aber nicht.

Und auch der Kampf um die Ehe für alle war ein zäher. Als Anfang 2020 Homophobie in der Schweiz unter Strafe gestellt (wir berichteten), fasste das Schweizer Parlament dann auch nach jahrelanger Debatte einen Beschluss zugunsten der Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren in dem 8,6 Millionen Einwohner*innen zählenden Land. Im Juni 2020 stimmte der Schweizer Nationalrat für die Ehe für alle (wir berichteten), im Dezember 2020 folgte der Schweizer Ständerat (wir berichteten). Doch Gegner*innen der Gleichstellung konnten genügend Unterschriften für ein Referendum sammeln (wir berichteten).

Kampagne der Gegner „Nein zur Ehe für alle“: Zombies, weinende Babys ...

Foto: Screenshot ehefueralle-nein.ch

Kritiker*innen der Legalisierung, allen voran das überparteiliche „Nein zur Ehe für alle“-Komitee, bestehend aus Parteimitgliedern und Nationalrät*innen der nationalkonservativen, rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP), der Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU) und der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), hatten eine offensive Kampagne geführt, um das neue Gesetz noch zu verhindern.

Wohl auch deshalb, weil ihnen sachliche Argumente gegen die Gleichberechtigung von homosexuellen Paaren fehlten, spielte die Kampagne mit Fotos von weinenden Kindern oder Plakaten, auf denen Zombies abgebildet waren, mit sämtlichen Emotionen rund um das Thema Kindeswohl.

... und ein Cyberangriff aus Russland?

Im Vorfeld des Referendums war der Webauftritt des nationalen Komitees Ehe für alle, zu dem sich sechs LGBTIQ*-Trägerorganisationen in der Schweiz zusammengeschlossen hatten, zum Angriffsziel eines böswilligen Cyberangriffs geworden. Am 25. August merkte ein Mitarbeiter des Komitees, dass die Webseite ehefueralle.ch offline war. Nachforschungen ergaben, dass eine DDOS-Attacke (Distributed-Denial-of-Service Attack) auf die Seite ausgeübt worden war.„Denial of Service“ meint die Nichtverfügbarkeit eines Internetdienstes, der eigentlich verfügbar sein sollte. Der häufigster Grund ist die Überlastung des Datennetzes, wie es auch hier der Fall war. Tausende Aufrufe pro Sekunde von IP-Adressen aus dem Ausland (bspw. Thailand oder Russland) brachten die Webseite zum Stillstand. Die Drahtzieher hinter der Attacke ließen sich nicht eruieren.

„Dies ist nicht nur ein Angriff gegen das JA-Komitee, sondern gegen die ganze Schweizer Demokratie. Solche kriminellen Methoden zeigen, wie wichtig unsere Arbeit ist. Der Versuch, uns auf diese Weise in die Knie zu zwingen ist nur ein weiterer Ansporn, mit aller Kraft für ein JA zur Ehe für alle am 26. September zu kämpfen.“

Olga Baranova, Kampagnenleiterin Komitee „Ehe für alle“

Evangelikale und Katholiken malten den Teufel an die Wand

Auch von religiöser Seite erhielt die Kampagne „Nein zur Ehe für alle“ Unterstützung. Das als erzkonservativ geltende Bistum Chur hatte öffentlich dazu aufgerufen, sich gegen die Ehe für alle zu engagieren, und auch die Schweizerische Evangelische Allianz sprach sich in einer Stellungnahme mit dem Titel „Ein Kind braucht Vater und Mutter“ gegen die Ehe für alle aus. Sie störte sich vor allem am Adoptionsrecht inklusive Samenspende für lesbische Paare. Die Samenspende war besonders umstritten, die Gegner erklärten, dies bedeute

„den Tod des Vaters“.

Vermutlich verfing der Tenor, die Ehe für alle sei ein „Gesellschaftsexperiment auf Kosten des Kindeswohls“. Bei einigen, die gegen eine Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mit der traditionellen Ehe keine Einwände haben, ändert sich Untersuchungen nach die Einstellung, sobald Kinder ins Spiel kommen, auch wenn es sich um Falschbehauptungen handelt.

Am Ende alles gut

Der Vorsprung der Befürworter war in den letzten Monaten auch etwas geschmolzen. Waren es am 20. August noch 69 Prozent, gaben am 15. September bei der letzten Umfrage des öffentlich-rechtlichen Senders SSR nur noch 63 Prozent der Befragten an, die Maßnahme zu unterstützen. 35 Prozent sprachen sich dagegen aus und 2 Prozent waren unentschlossen. Das ist immerhin ein Rückgang der Unterstützung um sechs Prozentpunkte. Gereicht hat dieser kleine Endspurt freilich nicht: Die Schweiz stimmt mit knapper Zweidrittelmehrheit und in den drei Amtssprachen den offiziellen Kampagnensong zur Volksabstimmung „Ja zur Ehe für alle“ an.

Ein richtiger Ohrwurm. *sab/afp/ck

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