Schwule Väter fliehen aus Russland

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Der Vorwurf lautet: Kinderhandel. Berichten zufolge planen staatliche Ermittler nicht nur, alleinstehenden Vätern die Kinder zu entziehen, sondern auch die Verhaftung der Männer, die durch In-vitro-Fertilisation und Leihmutterschaft zu Vätern wurden. Queere Organisationen sprechen von Homophobie als Motiv, die stellvertretende Leiterin des Ausschusses für Familien-, Frauen- und Kinderfragen nennt das Vorhaben eine eklatante Rechtsverletzung.


Update vom 19. Oktober findet sich am Ende des Artikels.

Foto: Christian Bowen / Unsplash / CC=

Väter bangen um ihre Kinder – und ihre Freiheit. Die Kinder sollen in Pflegefamilien untergebracht werden, während die Väter angeklagt werden. Die Ermittler rechtfertigen sich damit, dass nach russischem Recht angeblich nur verheiratete Paare und alleinstehende Frauen Zugang zur In-vitro-Fertilisation (IVF) haben – obwohl kommerzielle Leihmutterschaft in Russland, anders als in vielen anderen Ländern der Welt, erlaubt ist.


Leihmutterschaft nur für „traditionelle“ Eltern

Am 30. September berichtete die staatliche Nachrichtenagentur TASS erstmals über die bevorstehende Verhaftung dieser alleinerziehenden Väter unter Berufung auf eine Quelle in der Strafverfolgung. Die Quelle erklärte, dass diese Männer laut Gesetz IVF nicht nutzen können, da sie „keine traditionelle sexuelle Orientierung haben“. Daher habe es sich bei ihnen um illegale Kunden gehandelt.

Die geplanten Verhaftungen gehören in den Kontext eines Falles von Menschenhandel, der die Gerichte beschäftigt. Zwei Reproduktionstechnologiefirmen sind in den Fall verstrickt. Sie sollen ihre Dienste Klienten im In- und Ausland angeboten haben. Mehrere Ärzte, die mit den betroffenen Leihmüttern und Firmen zusammenarbeiteten, wurden im Sommer im Zusammenhang mit diesem Fall inhaftiert. Die schwulen Väter sollen nun in beschlagnahmten Unterlagen der Firmen aufgetaucht sein. 

Foto: facebook.com/people/Igor-Trunov

Igor Trunov, ein Anwalt, der einige der Angeklagten vertritt, bestätigte gegenüber der Nachrichtenagentur TASS die geplanten Verhaftungen. Er sagt, die alleinerziehenden Väter wurden zum Verhör vorgeladen und gewarnt, dass ihre Kinder mindestens für die Dauer der Untersuchung in Waisenhäuser gesteckt werden könnten. Laut Trunov handele es sich um zehn Väter, die der Untersuchungsausschuss wegen Kinderhandels anklagen will. Der Anwalt betonte, dass er die Absicht der Untersuchung für illegal hält.

Queere Aktivist*innen sind sicher: Homophobie ist das wahre Motiv

Max Olenichev, Rechtsanwalt und tätig unter anderem für die queere, russische Organisation „Coming Out“, machte deutlich: Seiner Meinung nach ist die Motivation des Vorhabens, Vätern ihre biologischen Kinder zu entziehen, nichts anderes als eine weitere Manifestation von Homophobie.

„Die sexuelle Orientierung ist kein Kriterium für das Verbot der Anwendung von assistierten Reproduktionstechnologien (ART).“

Nach der Geburt eines Kindes sei es einem Vater in Russland problemlos möglich, seinen Rechtsstatus zu bestätigen. Das Standesamt würde daraufhin eine Geburtsurkunde ausstellen – in der Spalte „Vater“ würde sein Name stehen, in der Spalte „Mutter“ nur ein Bindestrich. Es handele sich um eine private Angelegenheit, in die der Staat sich nicht einmischen sollte, so Olenichev.

„So definiert der Staat, vertreten durch das Gericht, klar den elterlichen Status solcher Männer, und kein Ermittler hat das Recht, das Gegenteil zu behaupten.“

Auch Alexander Belik, ein weiterer Anwalt des gesamtrussischen LGBT-Netzwerks, ist der Ansicht, dass das Interesse des Untersuchungsausschusses an homosexuellen Vätern von Kindern, die durch Leihmütter geboren wurden, auf Homophobie zurückzuführen ist. Er sagte:

„Der Untersuchungsausschuss sollte sich reale Fällen von Menschenhandel mit Sexarbeiter*innen und Migrant*innen vornehmen, anstatt nach schwulen Männern zu suchen, die versuchen, unter diskriminierender [russischer] Gesetzgebung eine Familie zu gründen.“


Duma-Abgeordnete appelliert: Denkt an die Kinder!

Foto: duma.gov.ru

Abgeordnete Oksana Pushkina, stellvertretende Leiterin des Ausschusses für Familien-, Frauen- und Kinderfragen der Staatsduma, zeigte sich über das Vorhaben entsetzt. Sie schrieb einen Brief an Generalstaatsanwalt Igor Krasnov, in dem sie an ihn appelliert haben soll, zu verhindern, dass die Kinder ihren Familien weggenommen werden.

Ihre Argumentation: Männer und Frauen sind laut russischer Verfassung gleichberechtigt. Zudem sei ein Gesetzentwurf zur Regelung der IVF in den Ausschuss der Staatsduma für Gesundheitsschutz eingebracht worden, weiter sei jedoch bis dato nichts geschehen – angesichts des Einflusses, den die Russisch-orthodoxe Kirche heute habe, sei dies nicht überraschend. Pushkina verdeutlichte:

„Ich halte das, was geschieht, für eine eklatante Verletzung der Rechte nicht nur der Väter, sondern auch der Kinder, von denen die Ältesten im nächsten Jahr zur Schule gehen sollen.“

Gegenüber dem Nachrichtensender RBC betonte die Abgeordnete:

„[Diese] Männer sind an nichts schuld, in der gegenwärtigen Situation ist es unsere Pflicht, sie vor Gesetzlosigkeit und Obskurantismus zu schützen.“


Update 19. Oktober 

Schwule Väter lassen alles hinter sich – aus Angst vor Putins Ermittlern

Foto: Kev Seto / Unsplash / CC0

Alexander* (Name geändert) floh inzwischen mit seinem Sohn aus Russland. Der 40-Jährige sprach mit der Zeitung The Guardian über seine Flucht und seine Ängste. Er habe nicht riskieren wollen, dass ihm sein sechs Monate alter Sohn weggenommen wird, so Alexander. Als er las, dass die Ermittler planten, alleinerziehende Väter zu verhaften, die via Leihmutterschaft Kinder bekommen hatten, dachte er, er habe den Bezug zur Realität verloren.

Eine Quelle in der Klinik warnte ihn kurz darauf, weil die Ermittler sich die Unterlagen seines Sohnes angesehen hätten – es habe den Anschein erweckt, als würde Alexander zeitnah Probleme bekommen. Für den alleinerziehenden Vater galt: Schnelles Handeln. Ohne zu zögern floh er aus dem Land. Und er hat auch nicht vor, so bald zurückzukehren.

„Natürlich möchte ich nach Hause kommen, mein Kind an einen ihm bekannten Ort zurückbringen, wo seine Oma und sein Opa in der Nähe sind.“

Aber er habe wenig Hoffnung, dass die Ermittler ihren „gesunden Menschenverstand“ einsetzen und ihr Vorhaben zeitnah ändern.


„Für diese Menschen ist es eine Katastrophe“

Konstantin Svitnev, ein russischer Rechtsanwalt mit Spezialisierung auf Reproduktionsrecht, musste selbst aufgrund des Falles das Land verlassen. Nachdem im Januar ein Baby, von einer Leihmutter geboren, tot aufgefunden wurde, hatten die Ermittler die Untersuchungen aufgenommen. Laut Svitnev hätten sie keine Grundlage für eine Anklage gefunden, da das Kind am plötzlichen Kindstod starb – und sich stattdessen auf alleinerziehende Väter konzentriert.

Svitnev erklärte, er kenne weitere Männer, die Russland aufgrund der Ermittlungen fluchtartig mit ihren Kindern verlassen hätten. Er sagte:

„Für diese Menschen ist es eine Katastrophe. Sie haben einen Job, ein Haus, ein Geschäft, sie haben sich ihr Leben in Russland aufgebaut. Und jetzt, weil sie beschlossen haben, Eltern in diesem Land zu werden, mussten sie ihre Kinder mitnehmen, alles zurücklassen und ins Unbekannte laufen.“

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