Der heilige Schein: Schwuler Ex-Priester packt aus

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Ein ehemaliger Priester aus Russland, der nach Holland fliehen musste, nachdem bekannt geworden war, dass er schwul ist, enthüllt die Doppelnatur der Russisch-Orthodoxe Kirche: Während Kirchenoberhäupter aus machtbewusster Staatstreue öffentlich Homophobie predigen, sei Homosexualität innerhalb der Kirche gang und gäbe. Eine schwule Lobby halte das Zepter in der Hand und Geistliche würden mit ihren Vorgesetzten schlafen, um befördert zu werden.

15 Jahre lang war Alexander Usatov als russisch-orthodoxer Priester in der Diözese Rostow und Nowotscherkassk tätig, einer südrussischen Industriestadt, ca. 1000 km südlich von Moskau, bis er vor etwa einem Jahr sein Amt niederlegen musste.

Usatov hatte den „Fehler“ gemacht, sich Metropolit Mercurius (Igor Ivanov), dem Leiter der Diözese Rostow und Nowotscherkassk, anzuvertrauen und sich zu outen. Das Coming-out hatte zur Folge, dass Kollegen und Vorgesetzten anfingen, Usatov zu diskriminieren und schikanieren. Man beschuldigte ihn zum Beispiel, „[den politischen Oppositionsführer] Navalny zu unterstützen“ und „Propaganda für oppositionelle Ideen und LGBT+-Kampagnen unter jungen Leuten zu betreiben“, gab Usatov auf Snob bekannt.

Das Ausmaß an Mobbing, dem er ausgesetzt war, gefolgt von der Angst um seine Sicherheit veranlassten Usatov schließlich dazu, sein Land zu verlassen. Mithilfe von europäischen LGBTIQ*-Aktivist*innen konnte er im vergangenen Jahr in die Niederlande fliehen, wo er mittlerweile den Flüchtlingsstatus erhalten hat.

Homophober Schuldkomplex als Kontrollwerkzeug

Bereits im vergangen Jahr hatte Usatov einen Artikel auf Snob veröffentlicht, in dem er beschrieb, wie desillusionierend es für ihn war, die Psychologie der Religion zu durchschauen und herausfinden zu müssen, dass keine echte Kirchenarbeit stattfindet, weil die Kirche daran gar nicht interessiert sei. Alles drehe sich nur um Macht, Geld und Sex, schrieb Usatov damals, und er sei zu dem Schluss gekommen,

„dass in der modernen Kirche vieles auf der Bildung eines Komplexes von Schuld und Minderwertigkeit bei Gemeindemitgliedern beruht. Wenn Sie dem Essen und sexuelle Verbote hinzufügen, erhalten Sie einen großartigen Mechanismus für den Umgang mit Menschen. Die ‚Seelsorge‘ der Kirche funktioniert nicht, sie hilft den Gläubigen nicht, mit internen Problemen umzugehen. Die Menschen werden aufgefordert, viele Verbote und Tabus einzuhalten, was im Prinzip unmöglich ist. Alles was bleibt ist, sich endlos selbst die Schuld zu geben und auf Vergebung zu warten.“

Kürzlich veröffentlichte Usatov erneut einen Artikel auf Snob, der wirklich ans Eingemachte geht. Usatov spricht darin von der empörenden Doppelmoral in der Russisch-Orthodoxen Kirche, wenn es um Homosexualität geht. Zum einen würde die Kirche der Regierung bei der Hexenjagd auf Schwule hilfreich zur Seite stehen, so Usatov. Für den Staat baue sie aus sich selbst heraus ein Bollwerk der traditionellen Sexualmoral.

„Um unsere Bedeutung für den Staat zu demonstrieren, werden wir [die Russisch-Orthodoxe Kirche] ein enges Thema [den Kampf gegen homosexuelle Minderheiten] angehen, das die Nation vereinen und von wirtschaftlichen und sozialen Problemen ablenken soll. Wir werden nach alter Tradition Feinde finden – wir werden eine Hexenjagd erklären.“

„Dass die Kirche nach Sodomiten und Feinden des Königs sucht, diene den Interessen der herrschenden Kreise“, ist Usatov der Meinung. Denn das lenke die Leute ab und der Volkszorn richte sich gegen diese sogenannten „Feinde des Volkes“. 

„Wenn der Feind im Sichtfeld erscheint, ist es sofort einfacher.“

Homosexuelle Dienstleistungen als Karriereschmiermittel 

Andererseits aber erlaube das System homosexuelle Beziehungen, enthüllt Usatov weiter. Jeder wisse „um die Existenz der Schwulenlobby und die Möglichkeit, nach dem Gang durch das Bischofsbett eine leichte Karriere zu machen“. 

„Unter den Bischöfen, Geistlichen und Seminaristen der russisch-orthodoxen Kirche ist der folgende Ausdruck beliebt: ‚Alles ist möglich, die Hauptsache ist, sich nicht zu verbrennen!‘ Mit anderen Worten, niemand interessiert sich für Ihr sexuelles Verhalten, bis es öffentlich wird.“

In einem Interview mit Meduza vom 7. März 2021 ging Usatov detaillierter auf die Frage ein, was es mit dieser schwulen Lobby auf sich hat.

„Meiner Meinung nach sind dies vor allem einflussreiche Schwule im [kirchlichen] System, die nicht nur durch kirchliche Politik und Finanzen, sondern auch durch gemeinsame sexuelle Interessen verbunden sind. Sie unterstützen sich gegenseitig und decken Skandale ab. Dies sind Bischöfe, Karrieremönche und privilegierte Geistliche. 

Sie existieren nicht isoliert in der Kirche. [...] Ich denke, dass fast die gesamte herrschende Elite der Russisch-Orthodoxen Kirche auf die eine oder andere Weise in die schwule Lobby involviert ist. Der Rest verdeckt es, einige Bischöfe leben mit Frauen zusammen.“

Nicht jeder könne ein solches Ticket nach oben bekommen und es sei auch nicht so, dass man zu sexuellen Kontakten gezwungen werde, so Usatov. Unabdingbar sei jedoch die Verschwiegenheit über die intimen Geheimnisse, die hinter den Kirchenmauern stattfinden. Das wiederum sei ihm zum Verhängnis geworden, weil er entschied, offen mit seiner Homosexualität umzugehen. Nach einem Konflikt mit dem berühmtesten schwulen Priester der Diözese Rostow wurde die Lage wirklich gefährlich für Usatov.

„Er mochte es nicht, dass ich mit den Leuten sprach, die er im Auge hatte, und aus Eifersucht begann er, falsche Gerüchte über mich zu verbreiten, den Metropoliten mit mir zu erschrecken und sogar Denunziationen an die ‚Behörden‘ zu schreiben.“

Besonders empört habe den Priester,

„dass ich anfing, queere Themen in meinem Kreis anzusprechen, und ich gebe offen zu, dass ich an schwulen Menschen nichts Falsches erkennen kann. 

Usatov glaubt, der Priester habe Angst vor der Möglichkeit seiner eigenen Enthüllung gehabt und fleißig den Verteidiger traditioneller Werte gespielt, um den Verdacht von sich abzulenken. Denn fast alle Schwule in Russland müssen im Verborgenen leben. Usatov glücklicherweise nicht mehr. 

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