Tunesien: Prominente queere Aktivistin frei – Repressionen nehmen zu

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Die tunesische Comedian und LGBTIQ*-Aktivistin Rania Amdouni ist wieder frei. Ein Berufungsgericht hatte die Aktivistin freigesprochen, nachdem sie zu sechs Monaten Haft und einer Geldstrafe verurteilt worden war, weil sie vor einer Polizeistation in Tunis herumgeschrien und geflucht hatte, nachdem die Polizisten sie schikanierten, statt ihre Anzeige aufzunehmen. 

Am 27. Februar wurde Rania Amdouni in Tunis verhaftet, kurz nachdem sie eine Polizeistation verlassen hatte. Amdouni hatte wegen wiederholter Belästigung und Hasskriminalität im Internet Anzeige erstatten wollen. Doch die Polizei weigerte sich, die Beschwerde aufzunehmen. Schlimmer noch: Statt ihr zu helfen, machten sich die Polizisten über sie lustig, beleidigten und beschimpften sie wegen ihrer sexuellen Orientierung und ihres Geschlechtsausdrucks.

Amdouni, völlig fassungslos über die Missachtung und Schikane der Polizeibeamten, verließ die Wache und begann auf der Straße vor der Polizeistation herumzuschreien und das tunesische Polizeisystem laut zu verfluchen, so die Angaben ihres Anwalts. Daraufhin wurde die 26-Jährige festgenommen und vor Gericht gestellt. Am 4. März verurteilte das Gericht Rania Amdouni zu sechs Monaten Haft und einer Geldstrafe. 

Die Verurteilung Amdounis löste in Tunesien eine enorme Welle des Protests aus. Hunderte Menschen gingen auf die Straßen, demonstrierten gegen die Verhaftung und forderten ihre Freilassung. Am 17. März 2021 dann die glückliche Fügung: Ein Berufungsgericht entschied, Rania Amdouni gegen eine Zahlung von 200 Dinar freizulassen.

Emna Guellali, stellvertretende Leiterin der Region MENA bei Amnesty International, sieht hinter Festnahme, Verurteilung und Freilassung eine klare Botschaft. Dem Staat gehe es um Einschüchterung, Aktivist*innen müssen sich darüber im Klaren sein,

„dass sie, sollten sie es wagen, sich über polizeiliche Übergriffe zu beschweren, damit rechnen müssen, vom Opfer zum Beschuldigten gemacht zu werden“.

Der Duft von Jasmin ...

Im Januar vor 10 Jahren stürzte die tunesische Bevölkerung ihren Herrscher Zine El Abidine Ben Ali, nach 23 Jahren Diktatur. Ein Hauch Demokratie oder besser gesagt ein Hauch Jasmin überzog das Land, denn diese Pflanze gab der friedlichen Revolution ihren Namen. 

Tunesien ist eines der wenigen, wenn nicht das einzige Land, in dem nach den Aufständen des Arabischen Frühlings tatsächlich demokratische Reformen stattgefunden haben: Das Land erhielt eine freie Presse, freie Wahlen, vor allem aber eine Verfassung, die den Bürger*innen des Landes das Recht einräumt, öffentlich ihre Meinung zu sagen.

Doch seit einigen Jahren schwenkt das Gefühl des Aufbruchs zunehmend in Frust um. Eine schwindende Wirtschaftskraft mit Arbeitslosigkeitsquoten von 15 Prozent, unter der vor allem die Jungen zu leiden haben, beuteln das Land. Mit der COVID-19-Pandemie löste sich die letzte Illusion in Luft auf. Im ganzen Land machen sich Ernüchterung und soziale Frustration breit. Die Unzufriedenheit begann sich zeitgleich mit den Feierlichkeiten zum zehnten Jahrestag der Revolution immer stärker Bahn zu brechen. 

Seit Anfang des Jahres wird Tunesiens Hauptstadt Tunis immer wieder zum Schauplatz von Protesten, die auf der Seite der Demonstrierenden zwar weitgehend friedlich verlaufen, von der Polizei aber regelmäßig mit massiver Gewalt und Festnahmen beendet werden. Mehr als 1.600 Menschen wurden verhaftet, Dutzende von ihnen haben sich über Misshandlungen und Folter beschwert. Die tunesischen Behörden weisen die Vorwürfe zurück und sagen, die Polizei habe gut gearbeitet. Premierminister Hichem Mechichi gibt ihnen recht. Am 5. Februar lobte Mechichi die Sicherheitskräfte auf Facebook für ihre „Professionalität im Umgang mit Protesten“. Die Demonstrierenden warnte er eindringlich davor, die „Sicherheitskräfte dazu zu bringen, Gewalt gegen sie anzuwenden“.

... überlagert vom altbekannten Geschmack der Unterdrückung

Eine Untersuchung von Amnesty International kam zu dem Ergebnis, dass tunesische Behörden in den letzten zwei Jahren verstärkt „Intoleranz gegenüber denen gezeigt haben, die Beamte oder Institutionen kritisieren“. 

Im Oktober 2019 erklärte das tunesische Innenministerium, gegen diejenigen, die Anschuldigungen gegen die Verwaltung vorbringen oder die Meinungsfreiheit absichtlich missbrauchen, rechtliche Schritte einzuleiten. Mindestens 40 Blogger*innen, Betreiber von Facebook-Seiten, politische Aktivistinnen und Mitglieder von NGOs sollen zwischen 2018 und 2020 strafrechtlich verfolgt worden sein, weil sie sich im Netz kritisch über lokale Behörden, die Polizei oder die Regierung geäußert hatten.

Gegen LGBTIQ*-Aktivist*innen wurde dabei besonders hart vorgegangen. Die queere Community berichtet von willkürlichen Verhaftungen, von körperlichen Angriffen und Misshandlungen in Polizeigewahrsam wie auch von Vergewaltigungs- und Morddrohungen.

Außerdem sollen queere Aktivist*innen seit einigen Jahren verstärkt über das Internet überwacht werden. Das bedeutet, staatliche Behörden nutzen Social-Media-Plattformen, um LGBTIQ*-Aktivist*innen zu identifizieren und zu überwachen. Diese Kampagnen zielen darauf ab, LGBTIQ*-Aktivist*innen zu diffamieren und Beweise für ihre Kritik an der Regierung zu finden, erklärte Saif Ayadi gegenüber Euronews. Der Sozialarbeiter der Damj Association for Justice and Equality, die sich für Gerechtigkeit und Gleichstellung von LGBTIQ*s einsetzt, teilte dem Sender mit, dass die Behörden sogar auf ihren eigenen Social-Media-Kanälen Bilder von Aktivist*innen mit Klarnamen, Anschrift und sexueller Orientierung veröffentlichten, „um sie zu diffamieren und der Gefahr auszusetzen“.

„Die Polizei beleidigt uns bei den Protesten mit homophoben Gesängen und nennt uns ‚Schwuchteln‘ und ‚Sodomiten‘, die es verdienen, getötet zu werden. Sie versuchen, unsere Identitäten zu benutzen, um die [allgemeine] Protestbewegung zu diskreditieren, aber wir alle sind die Bewegung und unsere Forderungen sind intersektional.“

Der Fall Rania Amdouni

Unzählige gemeldete Fälle von Verfolgung und Hasskriminalität hat die Organisation Human Rights Watch seit Anfang des Jahres auf ihrer Webseite dokumentiert. Darunter den der 26-jährigen Rania Amdouni, eines der bekanntesten Gesichter der Protestbewegung der letzten Monate.

Mit ihrer Art hatte die queer-feministische Aktivistin schnell die Aufmerksamkeit der Medien und der sozialen Netzwerke auf sich gezogen. Als Ikone der täglichen Proteste in der Hauptstadt geriet Amdouni seit Februar dieses Jahres zunehmend auch bei den Behörden ins Visier.

Am 11. Januar stand die Polizei erstmals bei Amdouni vor der Tür. Schon damals sagte Amdouni zu HRW, dass sie sich in ihrer Wohnung nicht mehr sicher fühlt.

„Die Polizei suchte mich in meiner Nachbarschaft. Meine körperliche Unversehrtheit ist bedroht und meine mentale Gesundheit verschlechtert sich. Die Leute starren mich auf der Straße an und belästigen mich online.“

Während eines friedlichen Protests am 30. Januar kam es zu gewaltsamen Übergriffen seitens der Sicherheitskräfte. Polizeibeamte traktierten die Demonstrierenden mit Tränengas und schlugen mit Schlagstöcken auf sie ein. Amdouni schlugen die Polizisten gezielt auf die Brust. 

Am 6. Februar nahm Amdouni an einer Gedenkveranstaltung anlässlich der Ermordung des Anwalts und politischen Aktivisten Chokri Belaïd am 6. Februar 2013 teil und hisste eine Regenbogenfahne. 

Seither verfolgen die Behörden eine Cyber-Mobbing-Kampagne gegen Rania Amdouni. Ihre Social-Media-Konten wurden mehrfach gehackt und ihre Fotos sowie persönliche und Kontaktinformationen veröffentlicht. Amdouni erhielte Hunderte Nachrichten auf Facebook, in denen sie bedroht wurde. Ein Mann schrieb in einer Nachricht: „Wir werden Sie bei den Protesten finden und Ihnen Angst und Schrecken einjagen.“ Irgendwann hatte Rania Amdouni genug und machte sich auf, um sich bei der Polizei über die Polizei zu beschweren. Der Rest ist bekannt ... 

Doch unterzukriegen ist Rania Amdouni davon nicht: „Toujours de lʼavant“ ✌️ („Immer vorwärts“) – lautet die Devise ihres ersten Facebook-Eintrags nach der Freilassung. 

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