Ein Jahr Corona: Massiver Anstieg von Hass und Abbau von Menschenrechten

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ILGA-Europe dokumentiert jährlich die rechtliche, politische und soziale Situation von LGBTIQ*s in 54 Ländern und vier europäischen Institutionen in Europa und Zentralasien. Der am 16. Februar veröffentlichte „Annual Review 2021“ ist stark von der Corona-Krise und ihren Auswirkungen auf queere Communitys geprägt. Wenngleich vereinzelt auch Positives berichtet wird, sind die Entwicklungen insgesamt besorgniserregend.

Hilfsorganisationen konnten ihrer eigentlichen Arbeit oft nicht nachkommen, weil sie ihre Arbeit auf die Bereitstellung von Grundbedürfnissen wie Nahrung und Unterkunft ausrichten mussten. Missbrauch und Hassreden haben während der Pandemie stark zugenommen und autoritäre Regimes bzw. rechtspopulistische Regierungen haben ihre Maßnahmen zur Beschränkung von LGBTIQ*-Menschenrechten intensiviert, indem zum Beispiel Gesetze ohne ordnungsgemäße Verfahren erlassen wurden.

Annual Review 2021 – wichtigste Entwicklungen und Trends

Auf die wichtigsten Entwicklungen des vergangenen Jahres wollen wir nachfolgend näher eingehen.

Trans*-Rechte zurückgenommen

Eine deutliche Verschlechterung weist der Bericht für die trans* Community aus. Im Jahr 2020 hat der Widerstand gegen Trans-Rechte in ganz Europa deutlich zugenommen. Rückschritte sind in Österreich, Kroatien, Finnland, Ungarn, Litauen, Russland, der Slowakei, Slowenien und dem Vereinigten Königreich zu verzeichnen. In Deutschland, Andorra, Zypern, Tschechien, Georgien, Deutschland, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Schweden ist die Situation stagnierend. Länder, die in Bezug auf Selbstbestimmung Fortschritte machten, haben Minderjährige meist davon ausgenommen.

Kritik an der Ausweitung des Diskriminierungsschutzes und der Selbstbestimmung für trans* Menschen kommt oft von Bürgerrechtsorganisationen selbst, etwa von radikal-feministischen Frauenrechtsorganisationen. Ihre Argumentation stützt sich auf die Idee, trans* Rechte würden den Frauen oder dem „Jugendschutz“ schaden.


Hass und Hetze von Populisten, Religionsführern und im Netz

2020 gab es auch einen erheblichen Anstieg von Hassreden, sowohl von offizieller Seite als auch in den Medien und im Internet. Der Trend, dass Politiker LGBTI*-Personen verbal angreifen, hat stark zugenommen und sich in Albanien, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Tschechien, Estland, Finnland, Ungarn, Italien, Kosovo, Lettland, Moldawien, Nordmazedonien, Polen, Russland, der Slowakei und in der Türkei ausgebreitet. In einigen Ländern (Weißrussland, Griechenland, Slowakei, Türkei und Ukraine) wurde Hassrede von religiösen Führern propagiert, einige von ihnen machten LGBTIQ*-Personen direkt für COVID-19 verantwortlich.

Hassrede in sozialen Medien hat in Belgien, Bulgarien, Kroatien, Tschechien, Malta, Montenegro, Russland und der Türkei zugenommen, ein Anstieg von Hassrede in den allgemeinen Medien war in Slowenien und in der Ukraine zu beobachten. Georgien, Irland, die Niederlande, Nordmazedonien, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Spanien und das Vereinigte Königreich gehören zu jenen Ländern, in denen Hassrede ständiges Thema ist.

Positiv anzumerken ist laut Bericht, dass viele Gerichte und Regierungsinstitutionen sich dieses Trends immer bewusster werden und damit angefangen haben, über die Regulierung von Online-Hassreden zu sprechen, auch auf EU-Ebene.


Stagnation beim Recht auf Partnerschaft

Während die Lage im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften und Eherechte in vielen Ländern – dazu gehören Andorra, Bulgarien, Tschechien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Serbien und die Slowakei – weiterhin stagnierend ist, gibt es auch Erfreuliches zu berichten: Montenegro führte als erstes Land im Westbalkan die Lebenspartnerschaft ein, die serbische Regierung versprach für 2021 erste Schritte zur Einführung der Lebenspartnerschaft und die Schweiz und Nordirland haben die Gleichstellung der Ehe eingeführt.

Ein wachsender Trend ist, dass mehr und mehr Länder beginnen, sich auf Elternschaftsrechte statt auf Partnerschaftsrechte zu konzentrieren, wodurch der Fokus von den LGBTI-Rechten selbst weggenommen wird, im positiven wie im negativen Sinne.


Prides unter doppeltem Druck

Darüber hinaus haben Angriffe auf die Versammlungsfreiheit zugenommen. In Aserbaidschan wurden Demonstranten festgenommen; in Weißrussland ging die Polizei monatelang brutal gegen die Bevölkerung, einschließlich LGBTI-Personen vor; in Bulgarien wurden queere Veranstaltungen durch Extremisten gestört; in Frankreich nahm die Brutalität der Polizei gegen Proteste zu; Griechenland verweigerte die Genehmigung für die Ausrichtung einer LGBT-Polizeikonferenz; in Polen wurden Aktivist*innen festgenommen und es kam zu Anti-LGBT- und Anti-Abtreibungs-Kundgebungen; in Russland wurden Aktivist*innen inhaftiert; in der Ukraine wurde die Pride-Veranstaltung in Odessa angegriffen; in der Türkei laufen Gerichtsverfahren gegen friedliche Pride-Teilnehmer*innen und weitere Verteidiger*innen von Menschenrechten.

Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen mussten in ganz Europa Pride-Veranstaltungen abgesagt werden. Das ist nicht nur für die Versammlungsfreiheit von Bedeutung, sondern kann noch nicht absehbare Auswirkungen auf die Sichtbarkeit und Präsenz von queerem Leben im öffentlichen Raum haben, so der Bericht. 


Zusammenhalt kommt noch zu kurz

Was im Bericht fehlt, ist der Fokus auf Intersektionalität innerhalb der LGBTIQ*-Communitys und der breiteren Gesellschaft. Das liegt daran, dass nur sehr wenige Gruppen über ihr Engagement für Intersektionalität in der Öffentlichkeit berichten. Die Autor*innen des Berichts stellten fest, dass viele queere Aktivist*innen an den Black-Lives-Matter-Demonstrationen (BLM) teilgenommen haben, doch nur sehr wenige haben ihre Unterstützung der BLM-Bewegung mit ihrer eigenen Arbeit, zum Beispiel zu Polizeigewalt gegen LGBTIQ*, verbunden. Zudem fehle es auf nationaler Ebene oft an spezifischen Maßnahmen, die die Lebensrealität von Queers berücksichtigt, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind.

Als Ausnahme nennt der Bericht die im November 2020 veröffentlichte EU-LGBTIQ-Gleichstellungsstrategie 2020–2025, die explizit einen intersektionalen Ansatz verfolgt und den nationalen Regierungen als Vorbild dienen soll (männer* Hintergrund).


Den vollständigen Bericht zum Download gibt es HIER. Informationen zu jedem Land und jeder Institution können auch separat über das Rainbow Europe-Webmodul abgerufen werden.


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