Gastkommentar: Der Ehe Tsunami

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Mussten wir bis vor kurzem noch davon ausgehen, dass die Ehe für alle in Deutschland noch in größerer Entfernung liegt, da wie Regierungssprecher Steffen Seibert erst am 17. Juni einsilbig verkündete, es keinerlei neuen Stand zu diesem Thema für die Regierung gäbe, so scheint es jetzt plötzlich nur noch um die Frage zu gehen, ob die Ehe für alle gleich nach der nächsten Bundestagswahl oder, wie es nun seit heute Nachmittag aussieht, schon in dieser Woche gesetzlich auf den Weg gebracht wird.

Zunächst sah es noch nach einer spürbaren, aber wenig wetterentscheidenden klaren Brise aus, als die Grünen die Ehe für alle zu einer Koalitionsbedingung erklärten; dann wurde es deutlich stürmischer, als kurz darauf SPD und FDP in dieser Frage mit den Grünen faktisch gleichzogen. Und kaum hat die Bundeskanzlerin – im Brigitte Talk (!) – verkündet, dass diese Frage doch eine Gewissensentscheidung ohne Fraktionszwang im Parlament sein solle, da stürmen die Sozialdemokraten erneut weiter vor, da ja die deutschen Parlamentarier nicht erst ab dem Herbst mit einem Gewissen ausgestattet sind und die Gesetzesvorlage durch den Bundesrat ja schon da ist. So möchte die SPD nun gleich in dieser Woche darüber im Bundestag zur Abstimmung kommen – und die CDU/CSU wird da wohl nolens volens mitziehen. Ohne die quasi sofortige Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare scheint, so könnte man meinen, in diesem Land kaum noch etwas zu gehen. Das Thema fegt mit unaufhaltsamer Gewalt über Deutschland hinweg. Alles andere scheint gerade nur Randnotiz zu sein.

Was hat diesen Tsunami ausgelöst?

Jedenfalls keine neue Situation in Bezug auf Argumente und Einstellungen. Alle Argumente für die Ehe für alle ebenso wie auch empirische Studien dazu, z.B. solche, die zeigen, dass Kinder mit zwei gleichgeschlechtlichen Elternteilen keinesfalls schlechter aufwachsen als Kinder mit einem verschieden geschlechtlichen Elternpaar, liegen seit langem auf dem Tisch. Auch die Einstellungen zu dieser Frage dürften sich kaum innerhalb weniger Tage so grundlegend verändert haben. Familienpolitisch konservative Politiker in CDU und CSU, die meinen, die Ehe sei nur etwas für Mann und Frau und für die Homos hätte man doch nun wirklich schon alles Erdenkliche getan („Was wollt Ihr penetranten Lesben und Schwulen eigentlich immer noch?“), werden nicht plötzlich ihr Herz für das Hochzeitsfest von zwei Bräutigamen oder zwei Bräuten entdeckt haben. Es dürfte ihnen auch weiterhin ein unheimlicher Schauer über den Rücken laufen, wenn sie so etwas „irgendwie nicht ganz Natürliches“ mitansehen müssen. Denn wie Seehofers Horst erst am Montag gegenüber den Medien betonte, „stabile Grundpositionen“ sind nun mal „stabile Grundpositionen“.

Sollte es hier also am Ende gar nicht um urplötzliche Einsichtsphänomene, sondern um Fragen von Machtkampf, Dominanz oder gar Wahlkampftaktik gehen? Ist es vorstellbar, dass etwa die SPD dieses Thema auch deshalb zur Koalitionsbedingung erklärt hat, weil sie mal dringend so etwas wie eine klare Position und Angriffspunkte zur CDU hin brauchte? Ist es auszuschließen, dass die Kanzlerin ähnlich wie beim Atomkraftthema nach Fukushima clever erkannt hat, wann das Beharren auf einer Position machtpolitisch desaströs wird und daher dringend aufzugeben ist, weil ihre Partei in den Augen der übergroßen Mehrheit im Land sonst als total von gestern abgestempelt werden könnte? Und hat all dies, wie auch die Idee der SPD, gleich noch in dieser Woche aufs Ganze zu gehen, am Ende doch irgendetwas mit Opportunismus und Hähnchenkampf zu tun? Gänzlich ausgeschlossen werden kann dies trotz aller Subtilität des Geschehens nicht.

Bei aller Genugtuung und Freude darüber, dass endlich die absolut überfällige Ehe für alle samt Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare auch in Deutschland eingeführt und damit diese durch nichts zu rechtfertigende Diskriminierung abgebaut werden wird, bleibt so ein, wie der Schwabe sagen würde, gewisses „Geschmäckle.“

Weniger die Einsicht hat’s getrieben, sondern eher der Kampf um Macht und Image.

Dies mag man beklagen, aber das Ergebnis passt. Und mehr noch: es ist ein zentraler Meilenstein für die Gleichstellung queerer Menschen in unserem Land und eine wichtige Weichenstellung für eine moderne und den Lebensverhältnissen angemessene Partnerschafts-  und Familienpolitik. Und so dürfen wir es betrachten: als Erfolg eines ziemlich langen Kampfes, den viele von uns unermüdlich mitgekämpft haben und als Wegweiser in eine Welt vielgestaltiger Lebens- und Liebesformen.  

Stefan Hölscher (Dr. phil., Dipl. Psych., M.A.), arbeitet als Managementberater, Trainer, Coach und Autor. Als Autor schreibt er Bücher und Beiträge zu Psychologie, Management, Lyrik, Aphorismen und queeren Themen. 

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