LIEBE IST KEIN VERBRECHEN – 20 JAHRE STRAFFREIHEIT

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„Widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen.“ Für junge Großstädter klingt das wie aus einer fernen Vergangenheit oder einem totalitärem Staat der Gegenwart. Aber es ist heute erst auf den Tag genau 20 Jahre her, dass der § 175 aus dem bürgerlichen Strafgesetzbuch gestrichen wurde.

Ein Rückblick auf 142 Jahre Verfolgung Homosexueller in Deutschland, zusammengestellt von der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, die mit dem „Archiv der Erinnerungen“ die wissenschaftliche Dokumentation der Unrechtsurteile begonnen hat.

Der § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (§ 175 StGB) existierte vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Das Gesetz drohte homosexuellen Männern auch mit der Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte. 1935 verschärften die Nationalsozialisten das Gesetz: Aus maximal sechs Monaten wurden bis zu fünf Jahren Gefängnis, für „erschwerte“ Fälle drohten bis zu zehn Jahren Zuchthaus. Der SS-Staat nutzte den § 175 auch, um Schwule in Konzentrationslager einzuweisen, was nicht selten einem Todesurteil gleichkam. Nach dem Krieg verfuhren die beiden deutschen Staaten unterschiedlich. Während die DDR zur vor 1933 geltenden Fassung des § 175 zurückkehrte und ab 1968 sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern straffrei ließ, hielt die junge Bundesrepublik lange am § 175 in der von den Nationalsozialisten verschärften Fassung fest. Noch 1957 legitimierte das Bundesverfassungsgericht den § 175 und stufte ihn als mit dem Grundgesetz vereinbar ein. Erst 1969 und erneut 1973 änderte sich das politische Klima für homosexuelle Männer durch eine Liberalisierung des § 175: Homosexualität war fortan auch in der Bundesrepublik zumindest unter erwachsenen Männern straffrei. Das sogenannte Schutzalter lag mit 21 Jahren allerdings weiterhin höher als für Heterosexuelle. Im wiedervereinigten Deutschland entstand 1989 gespaltenes Recht. Erst im Zuge der Rechtsangleichung nach der Vereinigung beider deutscher Staaten wurde der § 175 im Jahre 1994 endgültig aus dem bundesdeutschen Strafrecht gestrichen.

140.000 MÄNNER VERURTEILT WEGEN „UNZUCHT“

Mehr als 140.000 Männer wurden seit 1872 nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt, davon fast 65.000 zwischen 1946 und 1994. Allein in den ersten 15 Jahren der Bundesrepublik wurden bis 1964 jährlich rund 3.000 Männer nach § 175 abgeurteilt – viermal mehr als in den 15 Jahren der Weimarer Republik. Während der Deutsche Bundestag die Urteile aus der Zeit des Nationalsozialismus im Jahr 2002 aufhob und einige wenige Opfer seit 2004 Haftentschädigungen erhielten, sind die schwulen Männer, die zwischen 1946 und 1994 nach § 175 verurteilt wurden, bis heute nicht rehabilitiert. Jörg Litwinschuh, Geschäftsführender Vorstand der
 Bundesstiftung Magnus Hirschfeld: : „Allein während der Adenauer-Zeit wurden 50.000 homosexuelle Männer strafrechtlich verurteilt. Dies kam wegen des Verlusts des Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes sowie eines häufigen Ausschlusses aus Familien- und Freundeskreisen oft einer sozialen Vernichtung gleich.“

ZEITZEUG_INNEN GEGEN DISKRIMINIERUNG: „ARCHIV DER ANDEREN ERINNERUNGEN” FÜR ZUKÜNFTIGE GENERATIONEN

Ende März 2014 stellten die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und der Berliner Senat das Video-Zeitzeugenprojekt „Archiv der anderen Erinnerungen” der Öffentlichkeit vor. Damit unterstützen sie die Aufarbeitung der Repressions- und Lebenserfahrungen von LSBTI* in der frühen Bundesrepublik Deutschland und in der DDR. Die Lebensgeschichten noch lebender Zeitzeug_innen sollen in den kommenden Jahren dokumentiert und archiviert werden. Das Video-Archiv leistet einen besonderen Beitrag zur Dokumentation und Erforschung zeitgeschichtlicher „Er-Lebenswelten“ in den beiden deutschen Staaten und gibt Einblicke in Umstände und Befindlichkeiten, Selbstentwürfe und Veränderungsprozesse.

Eine Rehabilitierung der Opfer des Paragraphen 175 nach 1945 durch die Bundesrepublik ist bis heute nicht erfolgt.

Foto: Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen / Seit 2008 erinnert die Stele mit wechselnden Filmen im Sichtfenster an die dunkelste Zeit der Homo-Verfolgung. Das Denkmal wurde bereits mehrfach Ziel von Anschlägen.

Internet: WEITERE INFORMATIONEN HIER

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