Was Konservativismus anrichtet: Die tragische Geschichte des József Szájer

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Viktor Orbáns Parteikollege und wichtigster Mann in Brüssel wurde beim Gangbang mit 25 Männern erwischt. So und platter die süffisanten Schlagzeilen und Posts aus den Medienhäusern der Welt in dieser Woche. Es eine Geschichte, von der eine queere Nachrichtenredaktion kaum zu träumen wagt und für deren Drehbuchumsetzung wohl nur arte oder Netflix in Frage kämen. Weil sie auf so vielschichtige Weise zeigt, was in dieser Gesellschaft falsch läuft. Und weil man* am Ende dieses verrückten Jahres beinahe die Hoffnung darauf verloren hätte, dass trotz Rechtsruck, Rollback oder konservativer Wende“ am Ende die vernunftgeplagte und daher liberale Mehrheit die Oberhand behalten wird. Beinahe. Für Orban kommt sie wegen der Blockade des „Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit“ mehr als ungelegen, in Deutschland und Berlin beginnt der Wahlkampf. Deshalb ist die Geschichte von József Szájer unsere Geschichte der Woche – und vielleicht sogar die Geschichte des Jahres. 

Wer ist József Szájer?

Foto/Grafik: Laika

Niemand geringeres als Orbáns wichtigster Mann in Brüssel, ein Gründungsmitglied der ungarischen Regierungspartei Fidesz und maßgeblich verantwortlich für die neue Verfassung von 2011, die Familienwerte und Christentum als Grundpfeiler des Staates neu definierte und vormachte, was Polens Rechtspopulisten erfolgreich kopieren und sämtliche anderen EU-weit ihre Agenda nennen: Die freie Gesellschaft in eine interessengelenkte Oligarchie zu verwandeln. Eine der Änderungen in Ungarn damals: Die Ehe wurde als Bund zwischen Mann und Frau definiert.

Jozsef Szájer ist Familienvater: Mit seiner Frau Tünde Handó, einer prominenten Verfassungsrichterin, ist er seit 1983 verheiratet. Die beiden haben eine gemeinsame Tochter: Fanni wurde 1987 geboren. Der 59-Jährige war 16 Jahre lang Fidesz-Fraktionschef im Europaparlament. Bis 2019 war er Leiter der Delegation in der Fraktion der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP)der auch CDU und CSU angehören. Am Sonntag gab der EU-Abgeordnete überraschend seinen Rücktritt bekannt. Er halte der psychischen Belastung nicht mehr stand.

„Seit einiger Zeit ist die Teilnahme am täglichen politischen Kampf eine zunehmende mentale Belastung für mich, und diejenigen auf dem Schlachtfeld müssen sich in einem Kampfzustand befinden.“

Familienvater bei Tag, Daddy bei Nacht

Eine interessante Darstellung. Und eine in solchen Fällen nach wiederkehrendem Muster zu erwartende Fortsetzung eines tragischen falschen Lebens im Falschen. Denn der Grund für die ganz akut nachvollziehbaren Belastungen ist die Teilnahme von Orbáns Verbündetem an einer privaten Party. In Zeiten von Corona: verboten. Darauf stehen laut Brüsseler Verordnungen Geldstrafen ab 250 Euro. Außerdem: Bei Szájer wurden Drogen gefunden, belgischen Medien zufolge Ecstasy. Und: An der Veranstaltung sollen 25 Männer beteiligt gewesen sein. Also nur Männer. Es war eine klassische schwule Sexparty.

Alles nach „Außerdem“ ist nach rund 150 Jahren harter Kämpfe gegen Kirchen, Ideologien und Mächtige in Deutschland und Europa eigentlich reine Privatangelegenheit des Herrn Szájer. Das ist genau jener gesellschaftliche Konsens, auf den sich auch konservative Parteien und Politiker*innen berufen, wenn sie von unseren gemeinsamen Werten sprechen. Ob und wie das in der Öffentlichkeit nun diskutierte mutmaßliche Doppelleben von Jozsef Szájer für ihn und seine Familie überhaupt eines war, entzieht sich unserer Kenntnis. Und das ist auch gut so. Eigentlich. 

Feuer frei auf Feinde der Freiheit

Bei allem Mitgefühl oder Verständnis für jene, die sich ob der immer noch bestehenden gesellschaftlichen Zwänge genötigt sehen, ihre Sexualität für sich behalten zu müssen, sind wir uns in der Redaktion einig: Wer aktiv daran mitarbeitet, die Stigmatisierung der Queercommunity voranzutreiben, um sich politisch zu profilieren und mehr noch, gegen die freie Gesellschaft agitiert obwohl er selber ihr Nutznießer ist, hat ihren beruhigenden Schutzschild verwirkt, wie Szájer seine parlamentarische Immunität wegen einer Ordnungswidrigkeit. 

Nachdem wir immer noch darauf warten, dass Pornodarsteller Sean Harding in Sachen Lindsey Graham aus dem Knick kommt, wurde Orbáns homophober Parteikollege in Brüssel also mit heruntergelassenen Hosen erwischt. Göttlich.

Ein EU-Abgeordneter hängt hilflos an der Regenrinne 

Die illegale Party soll in der Nacht von Freitag zu Samstag in einer Privatwohnung in der Brüsseler Innenstadt stattgefunden haben. Der Organisator der Party berichtete gegenüber der Zeitung Het Laatste Nieuws, plötzlich sei sein ganzes Wohnzimmer voller Polizisten gewesen. 

„Sie fingen sofort an zu schreien: ‚Personalausweis! Jetzt!‘ Aber wir hatten nicht einmal Hosen an, wo in Gottes Namen hätten wir so schnell unseren Ausweis herbeizaubern sollen?“

Laut der Staatsanwaltschaft versuchte Szájer bei Ankunft der Polizei aus dem Fenster zu fliehen – und verletzte sich am Bein. Angeblich klammerte er sich dann mit blutigen Händen an eine Regenrinne. Wo sind eigentlich all die Gaffer mit Smartphones, wenn man sie mal braucht?

Aller verzweifelter Heldenmut nutzte nichts, Szájer wurde geschnappt. Woraufhin der Politiker tatsächlich versuchte, sich auf seine politische Immunität zu berufen. Die kann in solchen Fällen allerdings von einem EU-Ausschuss aufgehoben werden. 

Ausflüchte und Verschweigen für die kaputte heile Welt

Szájer versuchte in der Folge noch zu retten, was zu retten ist – das war aber nicht mehr allzu viel. Am Dienstag gab er zu, an einer „privaten Feier“ teilgenommen und damit gegen die Corona-Auflagen verstoßen zu haben. Er entschuldigte sich bei seiner Familie.

Und er verfasste ein Dementi zu den Drogenberichten: Sie seien zwar in seinem Rucksack gefunden worden, hätten ihm jedoch nicht gehört, so der 59-Jährige. Es ist eine Aussage, die Ungarns regierungsnahe Medien ohne Prüfung übernommen haben. Der Grund: Die Regierung hat 2013 eines der strengsten Drogengesetze Europas verabschiedet, das nicht nur den Handel mit, sondern auch den Konsum von Drogen kriminalisiert. 

Auch wird der schwule Aspekt in den weitgehend gleichgeschalteten ungarischen Medien mit keinem Wort erwähnt. Durchgesickert sein dürfte er inzwischen Dank sozialen Medien und Blogs trotzdem. Und das kommt ungelegen.

Zeitpunkt für Orbán denkbar ungünstig

Es ist ein Skandal für den ungarischen Autokraten Orbán, den er nicht gebrauchen kann – hat er sich doch auf die Fahnen geschrieben, die Queercommunity weiter an den Rand der Gesellschaft zu drängen und sein Ungarn der Werte auch gegen die EU zu verteidigen. Erst im Mai hatte die Regierung die rechtliche Anerkennung von Transgendern ausgeschlossen (wir berichteten), im November kam ein Verfassungszusatz, der die Adoption für homosexuelle Paare unmöglich macht.

In einer Stellungnahme am Dienstag kritisierte Ungarns Ministerpräsident den EU-Abgeordneten dann auch scharf. Sein Handeln sei inakzeptabel, nicht zu rechtfertigen und entspreche nicht den Werten der Partei.

Foto: Flickr User European People's Party / CC0

Allerdings betonte Orbán, die Verdienste seines Kumpels für Ungarn und seine 30 Jahre in der Politik des Landes und in Europa seien unvergesslich. Dennoch begrüßte er den Rücktritt und schickte seinen Verbündeten damit in den vorzeitigen Ruhestand. Auch die Fidesz-Delegation teilte diese Meinung:

„Er hat die einzig richtige Entscheidung getroffen.“

Übrigens: Bereits 2015 behauptete die demokratische und offen lesbische Politikerin Klára Ungár, dass Szájer und ein anderer Politiker schwul seien. Während der andere eine Verleumdungsklage anstrebte, reagierte Szájer nicht auf die Behauptungen. Wir wissen nun warum.

Glücksfall für die EU-Kommission 

Die politischen Akteure und Unterstützer des sogenannten Rechtsstaatlichkeitsmechanismus der EU reagierten auf den Fall Szájer vernehmbar erleichtert.

Jens Geier, Chef der SPD-Abgeordneten im Europaparlament, fand klare Worte:

 „An Heuchelei kaum zu überbieten ist, die Verfassung in Ungarn so zu schreiben, dass nur die Verbindung von Frau und Mann staatlich toleriert wird, sich selbst aber rauszunehmen, was man anderen versagt.“

Auch die Grünen-Abgeordnete Terry Reintke nutzte den Skandal, um ihre Meinung über die queerfeindliche Politik in Ungarn zu äußern: 

„Szájer und seine Partei Fidesz haben jahrelang alles getan, um das Leben von queeren Menschen in Ungarn zur Hölle zu machen. Umso mehr sollte dieser Moment genutzt werden, um auf das schauen, was im Moment dort passiert: Das Orban-Regime setzt ihre LGBTI-feindliche Politik ungeachtet fort und plant weitere diskriminierende Verfassungsänderungen.“

Die ungarische Oppositionspartei DK schloss sich an. Der Vorsitzende der Partei, Ferenc Gyurcsàny, zürnte:

„Während Fidesz-Politiker uns über Christentum, Familie, traditionelle Geschlechterrollen und Moral belehren, leben sie in Wirklichkeit ein völlig anderes Leben, so weit wie möglich von eben den Werten entfernt, für die sie einstehen.“

Der Fall rückt die Auswirkungen einer auf sogenannte traditionelle Werte ausgerichteten Politik, die nichts anderes als Unterdrückung von Minderheitenrechten und individueller Freiheit bedeutet, ins Schlaglicht der Öffentlichkeit.

Für die anderen Parteien in der EVP, wird es noch einmal schwieriger zu erklären, warum man* einerseits ein Europa der Werte formuliert, andererseits mit bigotten Nationalisten im Bett liegt. Und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen dürfte beim Nachtgebet leise Danke geflüstert haben, denn sie steht im Spagat zwischen Mitnehmen und Drohen der kraftmeiernden Populisten plötzlich auf sehr viel festerem Grund. Möge sie erfolgreich sein, damit irgendwann jeder Europäer seine Freiheit ohne die erdrückende Last der Angst zusammenbrechenden Weltbilder aus dem Mittelalter leben kann.

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