#NieWieder • 150 Jahre „175er“: Wird der queeren Opfer der Nazis gedacht?

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2022 jährt sich die Einführung des Paragrafen 175 ins Strafgesetzbuch des damaligen Deutschen Reiches das 150. Mal. Dieser Paragraf war es, der von den Nazis verschärft und dann bis 1969 in der Bundesrepublik unverändert weiter gültig, für das Leid zigtausender Männer und Frauen verantwortlich war. Erst 1994 wurde er endgültig gestrichen, erst 2017 wurden die bundesdeutschen Opfer des § 175 rehabilitiert, erst 2018 bat Bundespräsident Frank Walter Steinmeier sie um Vergebung. Dieses Lesestück will aufklären, Folgen benennen und endlich eine Reaktion des Bundestagspräsidiums hervorrufen, um ein würdevolles und angemessenes Gedenken im für die Verfolgung verantwortlichen deutschen Parlament zu erreichen.

Foto: CC0

Gedenken und der lange Atem des § 175

Seit 1997 ist der 27. Januar als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ ein gesetzlich verankerter, bundesweiter Gedenktag. 2005 erklärten die Vereinten Nationen den 27. Januar zusätzlich zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“. Seit 22 Jahren sind dort Angehörige und Opfer des Nationalsozialismus zu Wort gekommen, dreimal wurde thematisch an einzelne Opfergruppen erinnert - 2011 an Roma und Sinti, 2016 an Zwangsarbeiter sowie 2017 an Behinderte und Euthanasieopfer.

Den LGBTIQ*-Opfern des § 175 ist bisher nicht gesondert gedacht worden, kein*e Redner*in erzählte von persönlicher queerer Verfolgungsgeschichte.

Das verwundert nicht, und erschreckt dennoch: Die staatliche Verfolgung Homosexueller unter dem von den Nationalsozialisten verschärften § 175, ging in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert weiter. Bis 2017 waren Bürger, die bis 1994 nach Paragraf 175 des Strafgesetzbuches, also wegen homosexueller Handlungen angeklagt und verurteilt wurden, vorbestraft, und eventuell geoutet, ihren Job und die Karriere los.

Der Rosa Winkel sah in der BRD nur nicht mehr wie einer aus. 

Homosexuelle Opfer der NS-Ideologie wären und sind im Zweifel, so denn sie das KZ überlebt haben sollten, gleich wieder in den Knast gegangen, wenn sie mit ihren Partner*innen nur Zärtlichkeit austauschten.

Erst am 10. März 1994 wurde Homosexualität endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Und bis die Opfer für das an ihnen, in direkter Tradition des Unrechtsstaates der Nazis von der Justiz und Gesetzgebung der Bundesrepublik begangene Unrecht freigesprochen und entschädigt wurden, dauerte es noch einmal bis zum  22. Juli 2017. An diesem Tag trat das „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG)“ in Kraft.

Vergebliche Versuche

Vielleicht ist diese jahrzehntelange Geschichte staatliche Ächtung Homosexueller und das ihr folgende, verinnerlichte, gesellschaftlich ausgrenzende Klima mit ausschlaggebend für die auffällig ausweichende Haltung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der sich nun bereits im dritten Jahr weigert, die homosexuelle Opfergruppe in den Fokus zu rücken.

Dr. Lutz van Dijk ist deutsch-niederländischer Schriftsteller, Historiker und Pädagoge, geboren in Berlin. Er hatte im 2018 eine diesbezügliche Initiative ins Rollen gebracht, die unter anderem von Holocaustüberlebenden, dem „Internationalen Auschwitz-Komitee“, dem „Lesben- und Schwulenverband Deutschland“ sowie Historikern aus dem In- und Ausland und von vier der fünf Bundestagsvizepräsidenten (die Vertreter von SPD, Grünen, FDP und DIE LINKE) unterstützt wird.

Hieß es aus dem Bundestagspräsidium 2018 noch, die von der Initiative angedachte Umsetzung 2019 sei nicht realisierbar, weil die Planungen schon fortgeschritten seien, ist zum neuen Vorschlag, 2021 tätig zu werden, von Wolfgang Schäuble Folgendes an die Initiative von van Dijk übermittelt worden: er sehe zum gegenwärtigen Zeitpunkt „keine Veranlassung“, sich bereits jetzt mit den Planungen der Gedenkfeier für das Jahr 2021 zu befassen. Lutz van Dijk versprach, nicht locker zu lassen.

175er – auch 2021 totgeschwiegen!

Es war ein weitere Tiefschlag. In nur drei Zeilen und zugestellt nicht mal persönlich, sondern durch den Protokollchef des Bundestages, ließ man die Petition von Historiker von Dijk und inzwischen 170 prominenten Unterzeichnern für ein Erinnern an die homosexuellen NS-Opfer im Bundestag ein weiteres Mal abblitzen.

Entsprechend enttäuscht die Reaktion des Petitionsteams: 

„Gleichwohl bedauern wir sehr, dass Sie sich (wie Herr Dr. Brissa formuliert) als „Präsidium des Deutschen Bundestages nach reiflicher Abwägung“ dafür entschieden haben „ein Jubiläumsjahr... ins Licht zu stellen“, das das ganze Jahr Aufmerksamkeit erhalten sollte – und damit gegen die anerkennende Wahrnehmung einer Verfolgtengruppe, die immer wieder Diskriminierungen auch bei uns in Europa ausgesetzt ist und in den meisten Teilen der Welt selbst Folter, Haft und Todesstrafe erleiden müssen. Wie mutig wäre ein Zeichen von Ihnen hier gewesen! Wir werden nicht aufgeben, so u.a. auch gemeinsam mit unseren polnischen Nachbarn, wo erst vor kurzem ein Drittel des Landes zu LGBT-freien Zonen erklärt wurde, so selbst auch im Staatlichen Museum Auschwitz, unser Bemühen um aufrichtige Erinnerung fortzusetzen.“

150 Jahre Unrechtsparagraf 175 – wann, wenn nicht dann?

Die Lesben und Schwulen in der Union (LSU) machten neben ihrer Enttäuschung und ihrem Unmut über die nun auch 2021 fortgeschriebene Unsichtbarmachung von queeren Opfern des Nationalsozialismus  auf einen historischen Tatbestand aufmerksam, der nun zum Lackmustest für die Ernsthaftigkeit des Bedauerns der Bundesrepublik werden wird: 2022 jährt sich die Einführung des Paragrafen 175 ins Strafgesetzbuch das 150. Mal. 2022 muss dieses Parlament einen endgültigen Schlusspunkt unter das Totschweigen der Gruppe sexueller Minderheiten unter den Opfern des Nationalsozialismus und unter seine eigene diesbezügliche Geschichte und Verdrängungsmechanik setzen.

Foto: LSU

„Als direkte Lehre aus der Geschichte schrieb sich die junge Bundesrepublik ins Stammbuch, das kein Mensch wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden dürfe. 1994 wurden auch Behinderungen in den Grundrechtskatalog aufgenommen. Die LSU setzt sich weiterhin mit Nachdruck dafür ein, auch das Merkmal der sexuellen Identität endlich in den Artikel 3 des Grundgesetzes mit aufzunehmen. Wir sehen darin ein klares und längst überfälliges Zeichen, dass auch Angehörige sexueller Minderheiten nie wieder Opfer sein dürfen. Zudem sollte dieser Gruppe endlich auch im Rahmen der Feierstunde des Deutschen Bundestages im Jahr 2022 gesondert gedacht werden."

Alexander Vogt, Bundesvorsitzender der LSU

Dem ist nichts hinzuzufügen. Außer:

Machen Sie es so, Herr Bundestagspräsident!

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