#175er: Auch 2021 totgeschwiegen – 150 Jahre Unrechtsparagraf eine Chance?

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Foto: Friedrich-Naumann-Stiftung

Seit 1996 gibt es ihn: den Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar. Seit 2011 wird in den offiziellen Gedenkstunden im Bundestag auch speziellen Opfergruppen gedacht. Denen des Paragrafen 175 nicht. 2022 muss sich das ändern!

Es war ein weitere Tiefschlag. In nur drei Zeilen und zugestellt nichtmal persönlich, sondern durch den Protokollchef des Bundestages, ließ man die Petition von Historiker Lutz von Dijk und 170 prominenten Unterzeichnern für ein Erinnern an die homosexuellen NS-Opfer im Bundestag ein weiteres Mal abblitzen. Entsprechend enttäuscht die Reaktion des Petitionsteams: 

„Gleichwohl bedauern wir sehr, dass Sie sich (wie Herr Dr. Brissa formuliert) als „Präsidium des Deutschen Bundestages nach reiflicher Abwägung“ dafür entschieden haben „ein Jubiläumsjahr... ins Licht zu stellen“, das das ganze Jahr Aufmerksamkeit erhalten sollte – und damit gegen die anerkennende Wahrnehmung einer Verfolgtengruppe, die immer wieder Diskrimierungen auch bei uns in Europa ausgesetzt ist und in den meisten Teilen der Welt selbst Folter, Haft und Todesstrafe erleiden müssen. Wie mutig wäre ein Zeichen von Ihnen hier gewesen! Wir werden nicht aufgeben, so u.a. auch gemeinsam mit unseren polnischen Nachbarn, wo erst vor kurzem ein Drittel des Landes zu LGBT-freien Zonen erklärt wurde, so selbst auch im Staatlichen Museum Auschwitz, unser Bemühen um aufrichtige Erinnerung fortzusetzen.“

150 Jahre Unrechtsparagraf 175 – wann, wenn nicht dann?

Foto: Manfred Brueckels / CC BY-SA 3.0 / wikimedia.org

Die Lesben und Schwulen in der Union (LSU) machten neben ihrer Enttäuschung und ihrem Unmut über die nun auch 2021 fortgeschriebene Unsichtbarmachung von queeren Opfern des Nationalsozialismus  auf einen historischen Tatbestand aufmerksam, der nun zum Lackmustest für die Ernsthaftigkeit des Bedauerns der Bundesrepublik werden wird:

2022 jährt sich die Einführung des Paragrafen 175 ins Strafgesetzbuch das 150. Mal. Dieser Paragraf war es, der von den Nazis verschärft und dann bis 1969 in der Bundesrepublik unverändert weiter gültig, für das Leid zigtausender Männer und Frauen verantwortlich war. Erst 1994 wurde er endgültig gestrichen, erst 2017 wurden die bundesdeutschen Opfer des § 175 rehabilitiert, erst 2018 bat Bundespräsident Frank Walter Steinmeier sie um Vergebung (wir berichteten). 2022 muss dieses Parlament einen endgültigen Schlusspunkt unter das Totschweigen der Gruppe sexueller Minderheiten unter den Opfern des Nationalsozialismus und unter seine eigene diesbezügliche Geschichte und Verdrängungsmechanik setzen

Foto: LSU

„Ich persönlich lege meine Hoffnung nun auf das Jahr 2022. ... Allen Menschen, die unter diesem Paragraphen – und besonders seit seiner Verschärfung unter den Nationalsozialisten – leiden mussten, und allen, denen als Angehörige einer sexuellen Minderheit in diesen Jahren großes Unrecht geschehen ist,  ist das Parlament eine Antwort durch bewusstes Erinnern schuldig. Ich appelliere daher an das Bundestagspräsidium, sich bewusst zu machen, dass das Herz nicht schweigen kann. `Es gibt kein Ende des Erinnerns` hat der Bundespräsident dieses Jahr betont. Bei den homosexuellen Opfern hätte dagegen zum ersten Mal ein Anfang des bewussten Erinnerns gemacht werden können. Ein längst überfälliger Anfang und für die Überlebenden ein Anfang vom Ende ihrer im Erinnern nach wie vor antastbar gebliebenen Würde."

Alexander Vogt, Bundesvorsitzender der LSU

Dem ist nichts hinzuzufügen.


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