Im Nazireich totgeschlagen, in der BRD totgeschwiegen

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Foto: Nika Kramer / URBAN NATION

Heute vor 74 Jahren wurden die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befreit. Homosexuelle waren dort mit einem Rosa Winkel als eigene Häftlingsklasse gekennzeichnet interniert. Seit 1997 ist der 27. Januar als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ ein gesetzlich verankerter, bundesweiter Gedenktag. 2005 erklärten die Vereinten Nationen den 27. Januar zusätzlich zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“.

Faces of Auschwitz: Walter Degen

In der Berliner Bülowstraße 94 erinnert seit vergangener Woche die Installation „The Unforgotten“ an Walter Degen. Er wurde im Alter von 32 Jahren, am 29. August 1941, wegen Homosexualität (§ 175 Strafgesetzbuch) in Auschwitz inhaftiert.1942 wurde er ins Konzentrationslager Mauthausen überführt, hier verliert sich seine Spur.

Das sich über die gesamte Hauswand erstreckende Werk ist eine Arbeit für das URBAN NATION MUSEUM FOR URBAN CONTEMPORARY ART. Ihre Direktorin Yasha Young, der Streetart-Künstler Nils Westergard, sowie die Künstlerin Mademoiselle Maurice wählten die Adresse für Berlins erste „One Wall“ wegen ihrer Nähe zum (historischen) queeren Herz der Hauptstadt, dem Nollendorfplatz und der umgebenden Straßen. Westergard malte das Wandgemälde, bestehend aus dem Portrait Degens in Häftlingskleidung mit Rosa Winkel, seiner Häftlingsnummer 20285 und der Gleisstrecke nach Auschwitz, freihändig.

Einen Schwarm aus rund 200 Origami-Vögeln aus Metall brachte Mademoiselle Maurice so an, dass in der Mitte der Rosa Winkel entstehen konnte. Die Informationen zu Walter Degen steuerte das Archivprojekt Faces of Auschwitz bei, mehr zu URBAN NATION und dem Projekt hier.

Foto: Nika Kramer/URBAN NATION

Gedenken und der lange Atem des § 175

Was die Kunstschaffenden da so eindrucksvoll in die Berliner Stadtlandschaft einfügten, ist für die offizielle Gedenkstunde im Deutschen Bundestag immer noch kein Thema. Seit 22 Jahren sind dort Angehörige und Opfer des Nationalsozialismus zu Wort gekommen, dreimal wurde thematisch an einzelne Opfergruppen erinnert - 2011 an Roma und Sinti, 2016 an Zwangsarbeiter sowie 2017 an Behinderte und Euthanasieopfer. Den homosexuellen Opfern des § 175 ist bisher nicht gesondert gedacht worden, kein Redner erzählte von seiner schwulen Verfolgungsgeschichte.

Foto: C. Falk / pixelio.de

Das verwundert nicht, und erschreckt dennoch: Die staatliche Verfolgung Homosexueller unter dem von den Nationalsozialisten verschärften § 175, ging in der Bundesrepublik bis 1969 unverändert weiter. Walter Degen wäre im Zweifel, sodenn er das KZ überlebt haben sollte, gleich wieder in den Knast gegangen, wenn er mit seinem Partner Zärtlichkeiten ausgetauscht hätte. Erst am 10. März 1994 wurde Homosexualität endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Und bis Menschen wie Walter Degen für das an ihnen, in direkter Tradition des Unrechtsstaates der Nazis von der Justiz und Gesetzgebung der Bundesrepublik begangene Unrecht freigesprochen und entschädigt wurden, dauerte es noch einmal bis zum  22. Juli 2017. An diesem Tag trat das „Gesetz zur strafrechtlichen Rehabilitierung der nach dem 8. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen (StrRehaHomG)“ in Kraft.

Vielleicht ist diese jahrzehntelange Geschichte staatliche Ächtung Homosexueller und das ihr folgende verinnerlichte gesellschaftlich ausgrenzende Klima mit ausschlaggebend für die auffällig ausweichende Haltung von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der sich nun bereits im zweiten Jahr weigert, die homosexuelle Opfergruppe in den Fokus zu rücken.

Historiker Lutz van Dijk hatte im letzten Jahr eine diesbezügliche Initiative ins Rollen gebracht, die unter anderem von Holocaustüberlebenden, dem „Internationalen Auschwitz-Komitee“, dem „Lesben- und Schwulenverband Deutschland“ sowie Historikern aus dem In- und Ausland und von vier der fünf Bundestagsvizepräsidenten (die Vertreter von SPD, Grünen, FDP und DIE LINKE) unterstützt wird (blu berichtete).

Hieß es aus dem Bundestagspräsidium vor genau einem Jahr noch, die von der Initiative angedachte Umsetzung am heutigen 27. Januar 2019 sei nicht realisierbar, weil die Planungen schon fortgeschritten seien, ist zum neuen Vorschlag, 2021 tätig zu werden, von Wolfgang Schäuble Folgendes an die Initiative von van Dijk übermittelt worden: er sehe zum gegenwärtigen Zeitpunkt „keine Veranlassung“, sich bereits jetzt mit den Planungen der Gedenkfeier für das Jahr 2021 zu befassen. Lutz van Dijk versprach, nicht locker zu lassen.

Herrn Schäuble und am Thema Interessierten ist das Archiv der Erinnerung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld ans Herz gelegt: Lebens- und Leidensgeschichten der Homosexuellenverfolgung im Dritten Reich und der BRD, sowie der DDR mit Interviews und Hintergründen.

Gedenken außerhalb des Bundestages 

Foto: Sabine Hauke

Der Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVD) und die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas laden anlässlich des Gedenktages am 27. Januar um 12 Uhr zu einem stillen Gedenken am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen in Berlin-Tiergarten ein. (Alle Infos und Gäste hier)

Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler

Beim Festakt zum zehnjährigen Bestehens des Denkmals am 3. Juni des vergangenen Jahres (blu berichtete) hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine historische Rede gehalten und die Opfer der Homosexuellenverfolgung im Namen der Bundesrepublik um Vergebung gebeten:

Mehr als 20 Jahre lang wurden zehntausende Männer in der Bundesrepublik noch nach dem Paragraphen 175 verhaftet, verurteilt und eingesperrt. ... Die Würde von Homosexuellen, sie blieb antastbar. Zu lange hat es gedauert, bis auch ihre Würde etwas gezählt hat in Deutschland. ... Als Bundespräsident ist mir heute eines wichtig: Ihr Land hat Sie zu lange warten lassen. Wir sind spät dran. Was gegenüber anderen Opfergruppen gesagt wurde, ist Ihnen bisher versagt geblieben. Deshalb bitte ich heute um Vergebung – für all das geschehene Leid und Unrecht, und für das lange Schweigen, das darauf folgte." (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, 3. Juni 2018 - Link führt zur gesamten Rede)

Kommentar

Dieser Bitte um Vergebung zu entsprechen, fällt Opfern, deren Existenzen vernichtet wurden, und deren Angehörigen und Erben, sicher nicht einfacher, wenn jedem gesetzgeberischen Fortschritt in Richtung Würde und Gleichberechtigung ein langer zäher Kampf gegen die Schäubles und Seehofers dieser Republik vorangeht. Man denke nur an die jüngst unsägliche Weigerung im Rahmen der Schaffung eines dritten Geschlechtseintrages, gleich das verfassungswidrige Transsexuellengesetz zu streichen und durch ein selbstbestimmtes Personenstandsrecht zu ersetzen. Oder an den mühsamen und langenn Weg zur Ehe für alle, mit ihren Einschränkungen für lesbische Mütter hierzulande, in Österreich mit einem Ausschluss binationaler Paare. Die Liste ist lang.

Von der Katholischen Kirche über die CDU/CSU bis hin zur AfD gibt es nach wie vor Kräfte, die Menschenrechte nur so lange hoch halten, wie sie ihnen Vorteile bringen und Privilegien nicht einschränken. Wenn doch, haben sie offenbar diebische Freude daran, ihre traditionellen und/oder durch die Mehrheitsgesellschaft automatisch zugebilligten Privilegien bis aufs Messer zu verteidigen 

Ein Blick auf die Homosexuellenverfolgung und ihre Überwindung könnte den Geist öffnen: Gleiche Rechte und Gleichberechtigung schaffen letztere Privilegien gar nicht ab, sie billigen sie nur auch anderen zu. *Christian Knuth

Foto: Manfred Brueckels / CC BY-SA 3.0 / wikimedia.org

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