#Interview • Politik machen statt Medien

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Marc Kersten ist ehemaliger rik Mitarbeiter und Macher von queeren Stadtmagazinen in Berlin und Nordrhein-Westfalen. Jetzt will der 53-jährige bei der nächsten Landtagswahl in NRW für die Grünen antreten. Ein Gespräch unter Ex-Kollegen über Intersektionalität, soziale Gerechtigkeit und Fußball.

Als ehemaliger Arbeitskollege weiß ich, was Du als Medienmacher geleistet hast. Was qualifiziert Dich zum Landtagsabgeordneten?

Lebenserfahrung! Über 35 Jahre gesellschaftliches Engagement. Wie Du weißt, nicht nur in der queeren Community. Es wäre auch back to the roots. Denn ich hab ja schon mal im Landtag gearbeitet. Ich bringe auch jede Menge Fachkompetenz in der Sozial- und Gesundheitspolitik mit! Und nicht zuletzt etwas andere Perspektiven auf das Leben ...

Was meinst Du damit?

Ich komme weder aus einem Musterländle noch einer Musterfamilie. Ich bin kein Akademiker- sondern ein Gewerkschafterkind. Ich musste lernen, mich durchzukämpfen. Als freiberuflicher Journalist mit Mini-Honoraren. Als kleiner Soloselbständiger, der mit Hartz 4 aufstocken musste, um im Haifischbecken der Wirtschaft zu überleben. Ich muss „prekär“ nicht im Fremdwörterbuch nachschlagen. Und habe auch die Schattenseiten unserer Gesellschaft erlebt.

Aber Du warst über Jahre auch erfolgreicher Medienmacher für die Community und hast darüber einiges bewegt. Ich finde auch, dass Journalismus ein ganz gutes Fundament für politisches Engagement sein kann, bleibe aber lieber in der beobachtenden und auch kontrollierenden Rolle in diesem wunderbaren Konstrukt der repräsentativen Demokratie. Warum willst Du jetzt Berufspolitiker werden?

Medien machen war mir irgendwann einfach zu passiv. Und jetzt bitte keine Witze darüber machen!

Würd ich nie – Hashtag Penis (lacht). Ernsthaft: Was bewegt dich zum Wechsel?

Ich fühlte mich als Journalist wie der einsame Rufer am Spielfeldrand. Also wie sich bei manchen Spielen Yogi Löw fühlen muss. Tolle Ideen. Aber bei der Umsetzung auf dem Feld hapert es. Jetzt mach ich halt einen riskanten Move. Ich wechsle mich selbst ein!

Fußball. Herrje. Ich versuch's mal: Mensch kann sich – glaube ich – weder in diesem Sport noch im Politikbetrieb einfach so selbst einwechseln ...

... einfach ist das auch nicht. Wir Grüne sind eine basisdemokratische Partei. Der Ball kommt eher langsam ins Rollen. Und Entscheidungen werden kollektiv im Team gefällt. Das war für mich am Anfang noch ziemlich gewöhnungsbedürftig. Als Unternehmer war ich ja schlanke Hierarchien und schnelle Entscheidungswege gewohnt. Aber die Resultate sind dadurch ausgereifter und überlegter. Na ja, manchmal auch nicht, wie beim Mietendeckel.

Der Berliner Mietendeckel war eine bewusste Risikoentscheidung, weil anders der Druck auf den Bund nicht zu erreichen war.  ...

... Da stimme Dir zu. Aber ich mag Lösungen, die funktionieren und rechtssicher sind. Dafür braucht es ein Bundesgesetz. Deshalb hoffe ich im September auf einen Wechsel im Kanzler*innenamt.

Annalena Baerbock müsste ihren Lebenslauf dann nochmal ergänzen. Was steht da eigentlich bei Amthor, Dobrindt und Scheuer drin? Unsägliche Diskussion.

Absolut. Ich glaube sie wäre die Richtige! Sie hat wirklich verstanden, dass wir umsteuern müssen. Das ruft natürlich Besitzstandswahrer auf den Plan. Alle schmeißen gerade mit Dreck nach ihr. Vielleicht auch weil sie eine Frau ist. Diese Erbsenzählerei bei den Lebenslaufangaben ist doch affig. Als ob wir keine wichtigeren Probleme hätten. Klimawandel. Soziale Ungleichheit. Fake-News. Aber darüber will die politische Konkurrenz nicht reden. Ist doch klar: Wenn man keine vernünftigen Zukunftskonzepte hat, versucht man es mit dem Grünen Boogeyman und spielt die Angstkarte. Ich mache den Menschen lieber Hoffnung. Gerade in dieser Corona-Krise!

Der Sommer wird sicherlich ein gutes Stück Lebensqualität zurückbringen. Was hat Dich besonders bewegt in der Pandemie, worauf hoffst Du?

Jedenfalls wieder auf etwas mehr „Normalität“. Als schwuler Single der aufgrund chronischer Erkrankung einer Risikogruppe angehört, war ich extrem vorsichtig während der Pandemie. Und für einen waschechten Rheinländer wie mich ist das echt hart. Menschen nicht in den Arm nehmen zu können. Auf Distanz zu bleiben, um niemanden zu gefährden. Ich bin ja in der Obdachlosenhilfe aktiv. Und da ist Corona noch viel härter eingeschlagen. Gerade die Ausgangssperren. Geht jetzt bitte nach Hause? Zynischer gings nicht mehr.

Warum wird das nicht viel stärker in den Fokus der progressiven Parteien genommen im Wahlkampf? Die Lockdowns waren für viele doch auch so eine Art Planspiel Hartz 4“ mit dem Zwangsverzicht der sozialen Teilhabe. Entschuldige den sarkastischen Unterton. Ich habe in der Familie und der Wahlfamilie im letzten Jahr direkt miterlebt, wie egal dem sogenannten Sozialstaat der Einzelne sein kann.

Ich habe als aufstockender Solo-Selbständiger Hartz 4 selbst von Innen erlebt. Ich weiß wie chaotisch das mit den Hilfsprogrammen teilweise ablief. Es macht mich fassungslos, dass man sich nicht mal auf eine Zulage in der Grundsicherung einigen konnte. Oder auf ein höheres Kurzarbeitergeld für untere Gehaltsgruppen. Und damit viele Menschen ungerührt zu Armut verdammt hat. Gerecht geht anders!

Du warst früher schon an der Seite von Volker Beck im Bundesverband Homosexualität (BVH) aktiv, hast den Berliner Schwulen-Verband gegründet und Dich im LSVD engagiert. Aber die letzten Jahre sah es aus, als ob Du dich anderen Themen zuwendest in der Kommunalpolitk in Köln ...

Ich setze mich immer noch gegen Diskriminierung und Ungerechtigkeit ein. Da hängt mein Herz dran. Aber es gibt neben der LGBTIQ*-Community viele andere benachteiligte Gruppen, wie z.B. Menschen mit Behinderung, die kaum eine Lobby haben. Denen ich eine Stimme geben möchte. Im Landtag von NRW.

An der Seite von Arndt Klocke, um mal Namedropping zu machen ...

Der vor allem Verkehrspolitik macht und die Mobilitätswende voranbringt. Wir würden uns in der Fraktion gut ergänzen.

In welcher Hinsicht?

Bei bezahlbarem Wohnen. Das ist mein Schwerpunktthema. Dafür habe ich Konzepte entwickelt. Dazu rede ich auf Demos.

Diskriminierung ist breiter gefächert als es das Alphabet hergibt. Du hast schon Menschen mit Beeinträchtigungen angesprochen. Die Diskussion über intersektionale Benachteiligung, um den Kampfbegriff Identitätspolitik mal inhaltlich zu füllen, ist wichtig oder Lifestyle?

Wir müssen sie absolut führen. Auch und besonders innerhalb der Szene! Da gibt es so viel Intoleranz. Gegenüber Queers mit anderer Hautfarbe. Gegen alle, die zu tuntig oder ledermäßig sind. Gegen trans* Personen. Da diskriminieren Menschen, die selbst diskriminiert werden. Eine traurige Form von Entsolidarisierung. Dazu hatte ich 2015 für den LSVD eine Kampagne entwickelt unter dem Motto „Vielfalt macht uns stark“. Das muss verstärkt in den Fokus genommen werden, sonst hat es der politische Gegner leicht, uns zu schwächen.

Motiviert Dich Deine eigene Erfahrung als intersektional Benachteiligter?

In der Tat. Als lange Zeit prekär lebender Mensch habe ich die volle Klassismus-Keule erlebt. Und Diskriminierung aufgrund des Gesundheitszustandes. Weiß, wie das berufliche Chancen zunichte macht. Oft auch hinterm Rücken. Nach dem Motto „Der Arme sollte sich mal schonen“. Pustekuchen! Ich hab gelernt immer 110 Prozent oder 200 Prozent geben zu müssen, um mitzuhalten.

Als schwuler Mann hatte ich mein Coming-out in den 1980ern. Ich kenne noch Spiegeltüren und anlasslose Razzien. Ich erinnere mich, wie Unionspolitiker damals Internierungslager für HIV-Positive forderten. Wie ich beschimpft, bespuckt und einmal auch tätlich angegriffen wurde. Mein Rendezvous musste damals mit Rippenbruch zum Arzt. Ich kam mit dem Schrecken davon. Aber sowas hinterlässt Spuren. Mich hat es zu politischem Engagement motiviert. Deshalb setze ich mich für ein vielfältiges NRW und mehr Vielfalt bei den Grünen ein.

Du hast Dir viel vorgenommen: Förderprogramme gegen Homophobie und Rassismus. Mietobergrenzen und mehr bezahlbarer Wohnraum. Ein schärferes Tariftreuegesetz. Mit wem wollt ihr das in NRW durchsetzen?

Mit der Laschet-CDU wird es schwer. Keine Frage. Das ist auch nicht meine Präferenz. Aber Politik ist kein Wunschkonzert. Was rechnerisch möglich ist, entscheiden am Ende die Wähler*innen. Aber eins ist sicher: Je stärker die Grünen, desto mehr Fortschritt gibt es bei Klimaschutz, Gerechtigkeit und Queerpolitik. Dafür kämpfe ich! 

*Interview: Christian Knuth

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