Kommentar: Latzel labern lassen?

Skandalös und aus der Zeit gefallen. So kommentierten wir zunächst den Freispruch für den evangelikalen Prediger Olaf Latzel vor dem Bremer Landgericht. Es wäre ein Leichtes, das auf vielfältige Weise mit wütenden Argumenten zu untermauern. Kein Rant also, zum Tag des Grundgesetzes.

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Grundrechte, besonders die unveränderlichen und unveräußerlichen, stehen im Spannungskonflikt individueller und gesellschaftlicher Freiheitsräume. Diese Räume zu schützen, wird als Kernauftrag staatlichen Handelns aus dem Grundgesetz, genauer aus dem dort skizzierten Begriff „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ abgeleitet. Von den Autor*innen ist sie unter dem Eindruck der Erfahrungen einer totalitären Diktatur bewusst als Prinzip beschrieben, nicht aber definiert worden. So konnte sie Motor einer sich entwickelnden, sich diversifizierenden, lebendigen Gesellschaft werden und bleiben. Sie gibt mir das Recht, die fundamentalistisch-dogmatische Ideologie der evangelikalen Religionsgemeinschaften als mittelalterliche, faschistoide Irrlehre und als Gefahr für eben jene Grundordnung unserer Gesellschaft zu kritisieren und sie – im Rahmen des mir zustehenden individuellen Freiheitsraumes – zu bekämpfen. Durch Aufklärung, durch Sichtbarkeit, durch Einflussnahme auf mir zugängliche gesellschaftliche Freiheitsräume. 

Foto: Ansgar Lahmann / GFA

Das Landgericht Bremen hat im Revisionsverfahren sehr schnell klargestellt, dass es nicht vorhat, den bestehenden juristischen Status Quo im Spannungsfeld Religionsfreiheit vs. Würde und Recht auf Diskriminierungsfreiheit des Einzelnen anzutasten. Die Richter*innen ließen zum Beispiel ein Gutachten über ein modernes theologisches Verständnis der von Latzel in seinem Eheseminar angeführten Bibelherleitungen erst gar nicht zu. In der Urteilsbegründung verwiesen sie dann explizit auf die bestehende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die den Tatbestand der Volksverhetzung, immerhin eines der schwersten Verbrechen dessen sich ein mündiger Bürger an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung schuldig machen kann, bewusst eng fasst. 

Wenn Olaf Latzel vor seinen Schafen davon fabuliert, dass eine höhere, nichtmenschliche Instanz Homosexualität als todeswürdig ansieht und den Ausbruch aus der moralischen Denkschule einer frühmittelalterlichen Gesellschaft als Verbrechen ansieht, dann macht mich das zwar wütend und traurig, hält mich aber nicht davon ab, meine Sexualität frei auszuleben. Ganz anders – und da wird es auch für die Schutzmechanismen unserer Demokratie interessant, sieht es aus, wenn diese Denkweisen in unsere Institutionen einsickern. Wenn private Schulen beginnen, Lehrpläne zu missachten und Angestellte des öffentlichen Dienstes persönliche Moral vor staatlichem Recht gehen lassen. Solche staatszersetzenden Einflussnahmen evangelikaler Bewegungen, sind seit Jahrzehnten auf der ganzen Welt zu beobachten. Ganz aktuell stehen dank ihnen in den USA zahlreiche Freiheitsrechte, allen Voran das Recht von Frauen, über den eigenen Körper entscheiden zu dürfen, auf der Kippe. Systematisch werden überall, wo Evangelikale und ihre Helfer*innen, meist konservative Politiker*innen, Gesetzgebungsverantwortung erlangen, Bildung und Aufklärung im Sinne der evangelikalen Morallehre rückabgewickelt.

Um dem entgegenzuwirken, hätte ich mir ein andere Urteil gewünscht. Eines das klarstellt, dass für Abwertung von Menschenleben auch unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit in diesem Land nie wieder Platz sein wird. Sicherer würde ich mich aber mit einer Fortführung des Verfahrens fühlen, wenn Artikel 3 des Grundgesetzes meine sexuelle Orientierung endlich genauso explizit schützt, wie Latzels Religionsausübung. 

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