Kolumne: Feiern in der Krise

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Neulich lief ich an einem Garten vorbei, und unter der Pergola hörte ich Stimmen. Viele. Und Gelächter. Es war eine private Gartenparty mit etwa drei Dutzend Gästen. „Unerhört“, dachte ich bei mir und suchte im Geiste nach der aktuellen 7-Tage-Inzidenz, den entsprechenden Höchstteilnehmer*innenzahlen und gültigen G-Regeln. Wie mittlerweile wahrscheinlich die meisten, bin ich hier aber längst nicht mehr auf dem Laufenden. Nachdem die große Politik Covid-19 trotz der mitunter vierstelligen Inzidenzen laufen ließ, lassen die Menschen im Land es nun auch laufen. Mit von unzähligen Schnelltests lederhäutig gewordenen Nasenscheidewänden sitzen sie nicht mehr ganz 1,5 Meter auseinander, geben sich aus Gewohnheit lieber weiterhin die Ghetto-Faust statt der Hand und fremdeln auch in der queeren Szene noch mit der potenziell schmierinfektiösen Küsschen-Küsschen-Begrüßung.

Foto: flickr Nutzer 7C0/CC BY 2.0

Über Corona selbst redet man nun erst recht nicht mehr. Während eine europäische Nation in einem Tag für Tag gnadenloseren Krieg um ihren Fortbestand kämpft, mutet das unziemlich an. Über die eigene Versorgungslage tauscht man sich dagegen unbefangener aus, denn Sonnenblumenöl ist jetzt das neue Toilettenpapier. Weitgehend vergessen, weil sie nichts produzieren, was im deutschen Supermarktregal fehlt, sind aber die Menschen im äthiopischen Tigray, dem kurdischen Nordirak oder im Jemen. Wo war noch mal Afghanistan?

Musik aus, Licht an!

Dürfen wir unbefangen feiern, während zwei Ländergrenzen weiter ein brutaler Krieg wütet und Menschen von dort zu uns fliehen müssen? Können wir das überhaupt? Nun, wir konnten es in der Vergangenheit und weder das Kämpfen und Sterben in Syrien, im Irak und in Afghanistan oder die vielen schwelenden Dauerkonflikte auf der Welt, die es schon lange nicht mehr in die Tagesschau schaffen, haben uns davon abgehalten. Unser Christopher Street Day fand immer statt. Karneval fiel dagegen manchmal in Teilen aus. Zwar sehen beide Veranstaltungen ähnlich aus, doch Fastnacht ist Brauchtum, während die Prides und CSDs im Kern politisch sind; zumindest sein sollten. Deswegen konnten auch während der Coronabeschränkungen wenigstens unsere Pride-Demo-Züge Flagge zeigen. Der gesellschaftspolitische Bezug ist also die Legitimation, auch in Zeiten, in denen Festivität und Becherklang ungehörig scheinen, dennoch als Community zusammenzukommen und dabei auch und trotz allem fröhlich und ausgelassen zu sein. Das bedeutet, dass in der alljährigen Diskussion um die Anteile von Party und Politik die Verfechter*innen von mehr Inhalten statt bloßer Oberflächlichkeit auf den Christopher Street Days gute Argumente auf ihrer Seite haben. Aber bitte nicht wieder in Form einer dreiköpfigen Podiumsdiskussion am frühen Nachmittag, wo überpräsente Szene-Akteur*innen sich mit Beliebigkeitsfloskeln gegenseitig erklären, dass schon viel erreicht, aber auch noch viel zu tun sei.

Debatte für alle

Langweilig ist das Politprogramm beim CSD nämlich auch deshalb, weil es meist als Frontalunterricht inszeniert ist. Damit wird gleichsam eine Hierarchie erzeugt, in der die Meinungen auf der Bühne wortwörtlich „höherstehen“ als die der Menschen im Publikum. Ohne Frage sind jedoch Besucher*innen, die auch während der Politikdiskussion sitzen bleiben, durchaus zu eigener Meinungsbildung fähig.

Foto: flickr Nutzer JensCederskjold/CC BY SA 2.0

Deshalb braucht es partizipative Formate, in denen die Community auf den Festbänken miteinander ins Gespräch kommt und mit den Hauptdiskutant*innen auf der Bühne interagieren kann. Für Letztere bedeutet das entsprechend, dass die Sprechzettel, mit denen sie oft schon die CSD-Talks mehrerer Jahre bestritten haben, nicht auf alle Fragen der Zuhörer*innen die passenden Formulierungsbausteine parat haben und neue Antworten gefunden werden müssen.

Das wäre eine Bereicherung für uns alle.

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