75 Jahre Kriegsende: Auf den Spuren der Befreiung

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Am 8. Mai war es genau 75 Jahre her, dass die deutsche Wehrmacht in Berlin die Kapitulationsakte unterzeichnet hat. Damit fand der Zweite Weltkrieg in Europa endgültig ein Ende. Jetzt, wo die letzten Zeugen der dunkelsten Seiten der modernen Geschichte nach und nach verschwinden, tauchen mehr denn je Orte der Reflexion und Erinnerung auf und gewinnen an Bedeutung.

Inspiriert von vielen Geschichten rund um diese 75-jährige Freiheit bin ich mit einem Interrail-Pass von der Normandie nach Berlin gereist, um dem Weg vom D-Day bis zum Kriegsende zu folgen – auf den Spuren der alliierten Soldaten und der vielen Orte, an denen Geschichte geschrieben wurde.

Auf der Strecke gibt es unzählige Museen und Erinnerungsorte mit vielen persönlichen Perspektiven auf die Geschichte. Höhepunkte sind „Le Mémorial de Caen“ und die Strände in der Normandie, an denen die alliierten Truppen aus den USA, UK und Kanada – und viele weitere Nationalitäten – landeten und die Befreiung von Europa begann. Die Szenen aus „Der Soldat James Ryan“ und „Band of Brothers“ kennt jeder. Der amerikanische Soldatenfriedhof Omaha Beach und der deutsche Friedhof in La Cambe sind beeindruckende Orte, die als Mahnmal für den Frieden wirken.

Foto: B. Giepmans

Operation Erinnerungsorte

Foto: B. Giepmans

In Paris können Besucher den historischen Kampf um die Befreiung der französischen Hauptstadt im nagelneuen Musée de Liberation hautnah erleben. Im ursprünglich unterirdischen Kommandoposten des französischen Widerstands, zwanzig Meter unterhalb des Museums, koordinierte der Widerstandsheld Henri Rol-Tanguy die Befreiung von Paris. Per Augmented-Reality-Brille nehmen die Besucher die Rolle eines Journalisten ein und entdecken, was sich im August 1944 in den Räumen abspielte. Damit ist das Musée de Liberation ein Pionier der bahnbrechenden Mixed-Reality-Technologie.

Der „Sunset March“ in Nijmegen ist eine tägliche Hommage von Veteranen an die alliierten Soldaten, die für die Befreiung der Niederlande kämpften. Eine neue Brücke markiert den Ort, wo die US 82nd Airborne Division am 20. September 1944 im Rahmen der Operation Market Garden – eine der größten Luftoperationen der Geschichte – den Fluss Waal überquerte. 48 alliierte Soldaten starben hier. Auf der Brücke gedenken 48 Straßenlaternen-Paare der Gefallenen, indem sie bei Sonnenuntergang paarweise in langsamem Marschtempo beginnen zu leuchten. Nicht weit von Nijmegen liegt Arnhem. Die dortige „Bridge Too Far“ erinnert ebenfalls an die Operation Market Garden.

Foto: B. Giepmans

„There is never one story“ lautet die Botschaft des Freiheitsmuseums in Groesbeek, neu eröffnet in der wunderschönen grünen Landschaft ganz nah der deutschen Grenze. Ein einzigartiger Ort: Auf diesen Wiesen landeten im September 1944 rund 8.500 US-amerikanische Fallschirmjäger während der Operation Market Garden. Das Museum erweckt die historischen Ereignisse der Befreiung durch die US, britischen, kanadischen und polnischen Truppen wieder zum Leben.

Erinnerungskultur  

Foto: Bart Giepmans

Es besteht kein Zweifel, dass die schrecklichen Verbrechen gegen die Menschheit von den Nationalsozialisten in Erinnerung bleiben müssen, um künftige Generationen zu warnen und Eines klar zu machen: Nie wieder! Viele Museen setzen sich sehr differenziert damit auseinander und zeigen, dass diese Geschichte nicht schwarz-weiß ist, sondern dass es viele Grautöne gibt. Geschichten von Soldaten, Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern, Widerstandskämpfern, Zivilisten und Überlebenden des Holocausts eröffnen verschiedene Perspektiven aus verschiedenen Ländern.

Das Kriegsmuseum Overloon konfrontiert seine Besucher mit Gewissensfragen: „Würdest du mit dem Besatzer kooperieren oder für deine Ideale sterben?“ Auf dem deutschen Kriegsfriedhof in Ysselsteyn – mit dreißig Hektar die flächenmäßig größte deutsche Kriegsgräberstätte in der Welt – liegen rund 32.000 deutsche Soldaten, auch niederländische Nationalsozialisten sind darunter. Nicht nur Kriegsverbrecher sind hier beerdigt, auch 1.400 Kindersoldaten, die jünger als 18 Jahre waren. Hatten sie eine Wahl?

Foto: B. Giepmans

Die Geschichte ist oft nicht nur schwarz-weiß, betont auch Jurriaan de Mol, der niederländische Direktor von Liberation Route Europe. „Mein Vater Nico wurde während einer Razzia in Rotterdam festgenommen und als Zwangsarbeiter nach Hamburg transportiert. Während eines Bombenangriffs der Royal Air Force konnte er aus dem Arbeitslager fliehen. Tagelang wanderte er durch feindliches Gebiet, bis er ausgehungert bei einem Bauernhof anklopfen musste. Der Bauer, Albert Macke, hatte nur einen Arm. Den anderen hatte er in Stalingrad verloren. Albert zögerte nicht, ließ meinen Vater herein, und zusammen haben sie es durch den Winter geschafft. So entstand eine Freundschaft, die über dreißig Jahre dauerte …“

Die Nürnberger Prozesse

Auch in Nürnberg gewinnt Gerichtssaal 600 an Bedeutung und zieht immer mehr Besucher. „Das Interesse an diesem Ort ist in den letzten 30 Jahren enorm gewachsen“, erklärt Direktorin Henrike Claussen. „Je mehr der Internationale Gerichtshof in Den Haag im Laufe der Jahre Schlagzeilen gemacht hat, desto mehr Besucher sind hierher gekommen.“ Der Gerichtssaal, der bis Februar 2020 in Betrieb war, ist heute ein Museum, das einem entscheidenden Moment in der Weltgeschichte gewidmet ist. Besucher können sich über die Kriegsverbrecher, die Gerichtsverfahren und die Auswirkungen bis heute informieren .

Foto: B. Giepmans

Als Ort für die Gerichtsverfahren wurde Nürnberg ausgewählt, da die Alliierten nirgendwo sonst in Deutschland ein Gerichtsgebäude und ein Gefängnis von ausreichender Größe und Unversehrtheit finden konnten. Darüber hinaus waren viele der vor Gericht stehenden Nazis in der amerikanischen Besatzungszone, in der sich Nürnberg befand, gefangen genommen worden, da sie vor den ihrer Meinung nach unmenschlichen sowjetischen Repressalien geflohen waren.

Neben dem Gerichtsgebäude strömen zahlreiche Besucher auf das frühere Reichsparteitagsgelände der NSDAP, ein riesiges Gebiet im Süden der Stadt. Du kannst immer noch die riesige Kalksteintribüne sehen, von der aus Hitler während der Kundgebungen seine Reden hielt – ebenso die Kongresshalle und die Große Straße. „Es ist wirklich eine ziemliche Belastung für die Stadt. Lange wusste niemand, was er damit anfangen sollte“, sagt unser Stadtführer Werner. „Die Wiederherstellung hat uns 70 Millionen Euro gekostet, aber wir können sie nicht wirklich nutzen.“ Trotz der Kosten erkennt die Stadt natürlich die historische Bedeutung des Ortes und bewahrt sie für zukünftige Generationen. „Es hilft uns, die Macht der Propaganda zu demonstrieren“, sagt Werner.

Foto: B. Giepmans

Ein wichtiger Ort in Berlin im Hinblick auf das Ende des Zweiten Weltkrieges ist das Deutsch-Russische Museum. In diesem ehemaligen Offizierscasino der Wehrmacht unterzeichnete das deutsche Oberkommando am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation. Die Dauerausstellung dokumentiert den Eroberungs- und Vernichtungskrieg, den das Deutsche Reich seit dem 22. Juni 1941 gegen die Sowjetunion führte, aus deutscher und sowjetischer Sicht. Das Sowjetische Ehrenmal im Treptower Park in Berlin ist das größte Kriegsdenkmal in ganz Deutschland, das den etwa 80.000 sowjetischen Soldaten gewidmet ist, die bei der Einnahme Berlins ihr Leben ließen. *Bart Giepmans


Auf den Spuren der Befreiung

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www.interrail.eu

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