BERLIN: Queertopia Prenzlauer Berg?

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Foto: Markus Spiske/CCO

Allgemein ist es wohl eine höchst unkreative Methode, für einen Städtereise-Tipp einfach nur die Zieldestination zu nennen. Allerdings nicht beim neben Kreuzberg wohl bekanntesten Berliner Ortsteil: Prenzlauer Berg. Egal, wo in Deutschland diese zwei Worte fallen, es beginnt sofort eine emotional aufgeladene Assoziationskette in den Köpfen. Warum eigentlich? Eine Annäherung von innen.

Foto: C. Knuth

Über Schönheit lässt sich bekanntlich streiten, aber ein gewisser mehrheitlicher Hang dazu, Altbauten aus der späten Gründerzeit des 19. Jahrhunderts ästhetisch ansprechend zu finden, kann wohl kaum abgestritten werden. Sie sind der architektonische Markenkern des Prenzlauer Bergs. Der im Nordosten Berlins befindliche Stadtteil gilt als das größte zusammenhängende Altbaugebiet Deutschlands. Im Zweiten Weltkrieg wurden verhältnismäßig wenige Gebäude zerstört und auch unter dem SED-Regime der DDR nicht – Achtung: Wortspiel – Platte gemacht. So stehen hier heute über 300 Gebäude unter Denkmalschutz.

Herausstechende Wegmarken beim gut zu Fuß zu erlebenden Architekturrundgang sind das gerade erst liebevoll wiederhergerichtete Stadtbad Oderberger Straße, die Groterjahn-Brauerei in der Milastraße und selbstverständlich die große Kulturbrauerei zwischen Schönhauser Allee und Knaackstraße, die Kinos, Bars und Klubs beheimatet. Ebenfalls an der Knaackstraße, aber „Ecke Ryke“, steht der „Dicke Hermann“, der 1877 als Berlins erster Wasserturm erbaut wurde. Wer die sich anschließende Anhöhe erklimmt, hat von dort einen grandiosen Blick, und besonders laue Sommerabende zu zweit können hier so richtig romantisch werden. In der Rykestraße befindet sich ein weiteres historisches Gebäude: die größte Synagoge Deutschlands, die Dank „arischer“ Nachbargebäude in der Pogromnacht 1938 nicht völlig zerstört und nach dem Krieg wieder aufgebaut wurde.

Foto: Hotel Oderberger Berlin/Martin-Nicolas Kunz

Wohnblock mit Ruhe

Die jeweils angrenzenden Wohngebäude in typisch fünfstöckiger Blockrandbauweise mit verschiedensten klassischen Fassadenstilen sind beispielhaft für fast den gesamten Prenzlauer Berg, der sich über knapp 11 Quadratkilometer von Berlin-Mitte bis Pankow und von Friedrichshain nach Wedding erstreckt. Sie wurden nach der Wende mit großem Aufwand und Einsatz saniert und hergerichtet. Übrigens vielfach auch von Queers, Künstlerinnen und Künstlern, die aus der gesellschaftlichen Enge Westdeutschlands fliehend in dem damaligen verwahrlosten Stadtbezirk Häuser besetzten und später kauften.

Foto: Jonas Deine/CCO

Foto: C. Knuth

Wer die Gelegenheit einer offenen Hoftür geboten bekommt, sollte sie nutzen: Die Innenhöfe der Wohnblöcke sind oftmals idyllische, parkähnliche Inseln der Ruhe. Aber Vorsicht, sie sind in Privatbesitz und der Prenzelberger, wie der Einwohner genannt wird, ist heute meist eine Mischung aus Berliner Rotzigkeit, Hamburger Distanz und schwäbischem Temperament. Ganz legal können dagegen die breiten Straßen und Plätze wie Kollwitzplatz oder Helmholtzplatz mit ihrem alten Baumbestand erlebt werden. Sie bilden auch den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens der nach ihnen benannten Kieze im Ortsteil, das sich zwar stetig wandelt, aber doch einige prägende Konstanten verteidigt.

Queertopia

Ganz besonders in den queeren Communitys ist die inzwischen 30-jährige Entwicklung des Prenzlauer Bergs vom ehemaligen Künstler- und Lebenskünstler-Viertel zum teuren Familienwohnort heiß diskutiert und oft umstritten. „Babyberg“ oder „Schwabilon“ bzw. „Nordschwaben“ sind nur einige der mit dem heutigen Prenzlberg assoziierten Schmähnamen. Und tatsächlich ist der mit den Sanierungen und Neubauten verbundene, inzwischen fast vollständige Austausch der Bewohnerschaft massiv.

Foto: Christian Knuth

Die Verdrängung der Angestammten hat das gesellschaftliche Leben stark verändert – für den Wiederholungsbesucher ist diese Entwicklung am ehesten am Wandel der abendlichen Hotspots zu bemerken. Allerdings bei weitem nicht so negativ, wie das gerne von Prenzlberg-Romantikern beschrien wird. Ja, eindeutig schwule Anlaufpunkte sind vielfach verschwunden, viele geliebte Bars haben aufgegeben oder sich gewandelt und angepasst. Bis zum Anfang dieses Jahrzehnts war nicht abzusehen, ob nun noch ein weiterer Bioladen die nächste Kneipe ersetzt und sich der Ortsteil vielleicht doch in ein kulturell totes Langweilerviertel verwandelt. Allerdings ist den hohen Geburtenraten und den nervenden Kinderwagen-Parcours heute etwas ganz Natürliches gefolgt: Die erste Generation des Nachwuchses ist im Halbstarken-Alter, die noch jungen Eltern und die zugezogenen Transsexuellen, Schwulen, Bisexuellen und Lesben, die nach wie vor einen großen Anteil der Bevölkerung ausmachen, haben Bedarf an Kneipen, Bars und vor allem Restaurants.

Und so ist in den letzten fünf Jahren eine neue Stufe des Prenzlauer Bergs als Spielplatz für liberale Lebensformen erklommen worden. Kulinarisch locken unzählige kreative Restaurants mit einer unvergleichlichen Vielfalt. Fast scheint es so, als ob jeder Zugezogene seine Küchengewohnheiten eingebracht hätte. An dieser Stelle daher mal kein spezieller Tipp, dafür die Empfehlung, sich nach Lust und Laune durchzuprobieren. Die Preise bewegen sich entgegen denen der Wohnungen meist in moderaten Sphären.

Männervergnügen

Gleiches gilt im Prinzip für die Barszene, denn die meisten Angebote sind „unisex“, was bedeutet, dass hier von der Drag über die Latte-Mutti bis zum Skin alle willkommen sind und eine Separation des Zielpublikums sich eher an Musikstil, Einrichtungsvorlieben und Trinkgewohnheiten vollzieht. Auch schwule Klassiker wie die Marietta in der Stargarder Straße (mittwochs), das Schall & Rauch in der Gleimstraße (besonders fürs späte Frühstück beliebt) oder der Marienhof an der Marienburger Straße sind heute „open for all“ und bei Heteros wie Queers gleichermaßen beliebt.

Wer es lieber doch nur schwul haben will, sollte die kultige Bärenhöhle an der Schönhauser Allee besuchen und sich am besten schnell mit ein bis fünf Kurzen auf Level bringen. Auch für das Vergnügen unterhalb der Gürtellinie bietet der Prenzlauer Berg nach wie vor genug Spielplätze: Seit den 1990er-Jahren ist die Greifbar an der Wichertstraße eine der Berliner Adressen für Männervergnügen. Als klassische Bar mit Klingel an der Tür wird hier zwar darauf geachtet, dass die Publikumsmischung ausgewogen ist, wirkliche Vorgaben – außer nach Möglichkeit einen Penis zu besitzen – werden nicht gemacht. Und genau deshalb funktioniert das Konzept der 365 Tage im Jahr geöffneten Kneipe mit großem Spielbereich auch: Hier treffen sich Schwule, Bisexuelle und Transgender unterschiedlichster Altersstufen und sexueller Vorlieben. Ganz entspannt, ganz greifbar.

Etwas strukturierter verkehrt es sich im Stahlrohr 2.0 in der Paul-Robeson-Straße, wo Mottos wie Sneaker, Sportswear oder Naked Anleitung fürs Outfit bieten. Wer über eine der Dating-Apps die Gelegenheit hat, Einwohner kennenzulernen, kann sich im Zweifel auf spannende Locations freuen. Zum Beispiel auf einen inzwischen einschlägig weltweit bekannten Keller in der Näher der Wisbyer Straße, der zum „Glory Hole“-Vergnügen lädt. Und natürlich sind da auch die Parks wie der Ernst-Thälmann-Park, der Leise-Park (ein alter Friedhof) an der Prenzlauer Allee direkt gegenüber dem schwul überlaufenen Fitnessstudio John Reed oder der Mauerpark, die in den Abendstunden nicht nur zum Picknick geeignet sind.

Mit dem Mauerpark als unbedingtes Muss beim Berlin-Besuch (inklusive Karaoke am Wochenende) schließt dann auch dieser Versuch, Vorurteile zu hinterfragen und Lust auf einen Besuch des Prenzlauer Bergs zu machen. Und wenn das nicht gelungen ist? Dann genießen wir unser kleines Queertopia halt alleine. Zwinkersmiley.

Infos für queere Berlin-Touristen gibt es auf der Website von Visit Berlin unter www.visitberlin.de/de/lgbti-gay-berlin

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