SÃO PAULO: Großstadtdschungel

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Mit über elf Millionen Einwohnern zählt Brasiliens Wirtschaftsmetropole zu den größten Städten der Erde. Hier den Überblick zu behalten, fällt gar nicht so leicht. Zum Glück liegt der auch aus schwuler Perspektive spannendste Stadtteil genau im Zentrum dieser gigantischen Megacity.

Foto: Dirk Baumgartl

Dieses Haus ist eine Stadt für sich. Mit seiner Fassade aus Beton und Glas schlängelt sich das Edificio Copan durch das Stadtzentrum von São Paulo. Die Wohnfläche von über 116.000 Quadratmetern hält es einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde und ist aus der Skyline nicht wegzudenken. Heute in die Jahre gekommen, wurde das aus sechs einzelnen Wohnblocks bestehende Gebäude in den 1950er-Jahren von Brasiliens Architekturlegende Oscar Niemeyer entworfen und bis 1966 fertiggestellt. Auf den 32 Stockwerken, die bis 140 Meter hoch in den Himmel ragen, finden sich Apartments mit einer Größe von 26 bis 350 Quadratmetern. Das Haus ist die steingewordene Utopie, dass Menschen – egal ob arm oder reich – sich den gleichen Lebensraum teilen. An die 5.000 Menschen leben im Edificio Copan, das in seinen unteren Etagen gut siebzig Geschäfte, eine Kirche und etliche Bars und Restaurants beherbergt. Eines davon, das Orfeu, gilt seit seiner Eröffnung 2019 als einer der derzeit angesagtesten Treffpunkte der LGBTIQ*-Szene. Zwischen zwei Gebäuden gelegen, drängeln sich vor der Bar am Abend die Gäste auf der Straße, an den Wochenenden ist hier schon zur Mittagszeit kein Platz mehr zu finden. „Während früher die queere Szene überall in der Stadt verteilt war, hat diese sich in den letzten Jahren immer mehr in Downtown konzentriert“, erzählt André Fischer.

Foto: Dirk Baumgartl

Der 56-jährige Journalist, Kulturmanager und LGBTIQ*-Aktivist lebt seit 35 Jahren in der Stadt und ist Direktor des wichtigsten queeren Kulturfestivals des Landes, Mix Brasil. 2019 beauftragte ihn das Kultursekretariat der Stadt zudem mit der Gründung und Leitung des ersten LGBTIQ*-Kulturzentrums Brasiliens. Das Zentrum im Stadtteil Itaim Bibi, das im Schatten der Bürohochhäuser von Google und Co. liegt, teilt sich das Gelände mit einer Schule und bietet dank seines kleinen Theaters so gut wie täglich queeren Künstlern eine Plattform. „Die Gegend rund um das Copan und den benachbarten Roosevelt-Platz zieht eine ganz neue Art von queeren und nicht-binären Menschen an“, so Fischer. „Gleich um die Ecke ist das Copancinho, eine ebenfalls äußerst gut frequentierte Bar. Meine neueste Entdeckung ist PPD („Por um Punhado de Dólares“), eine Bar mit Restaurant, das seine Lebensmittel von alternativen Landbesetzern kauft.“ In den letzten Jahren hat sich Centro zu einem echten Trendviertel entwickelt. Restaurants wie das A Casa do Porco, das ausschließlich Gerichte mit Schweinefleisch anbietet und keine Reservierungen annimmt, sorgen für lange Schlangen vor der Tür. Das Porco-Team hat um die Ecke auch die Eisdiele Sorveteria do Centro eröffnet und verkauft neben klassischen Eisbechern auch eine Variante mit Karamell, Schokolade mit einem kross gebratenen Stück Speck sowie frittierter Schweinehaut an. Und ebenfalls ganz in der Nähe lockt das Zdeli mit Bagels und Burgern – ein Lokal, das auch André Fischer besonders am Herzen liegt.

Foto: Dirk Baumgartl

Horizont aus Beton

Wer sich nach seiner Ankunft in der Millionenmetropole so etwas wie einen Überblick verschaffen will, sollte den Farol Santander besuchen. Von der U-Bahn-Station Praça da Sé, an der sich auch die monumentale Kathedrale von São Paulo befindet, ist es nur ein kurzer Fußweg zu der in einem Bankgebäude gelegenen Aussichtsplattform. Von dort oben ergibt sich bei gutem Wetter ein fantastischer Blick über die Stadt, deren Straßen und Hochhäuser bis an den Horizont reichen. Das kann auf manche durchaus beängstigend wirken, auf der anderen Seite bietet dieser Großstadtdschungel eine Vielfalt an Kulturen und Subkulturen, wie man sie nirgends sonst in Brasilien finden wird. Neben der Aussichtsterrasse erwarten die Besucher zudem verschiedene Ausstellungen zur Geschichte des Gebäudes sowie Werke des in São Paulo geborenen Künstlers Vik Muniz, der aus Müll gigantische Collagen zusammensetzt und diese dann fotografiert. Vom Farol Santander ist es wiederum nicht weit zum Museum für sexuelle Diversität, das sich in der U-Bahn-Station República befindet.

Foto: Dirk Baumgartl

Auf dem Weg dorthin passiert man das prächtige Stadttheater, in dem sich das bei der Szene beliebte Restaurant Bar dos Arcos befindet, und wird kurz vor dem Eingang zur Metro das ganz in der Nähe aufragende Edificio Copan erkennen. Als erstes Museum seiner Art in Lateinamerika widmet sich das Museu da Diversidade Sexual seit seiner Eröffnung 2012 in Wechselausstellungen der sozialen, politischen und kulturellen Geschichte von Brasiliens LGBTIQ*-Community. Während homosexuelle Handlungen bereits seit 1823 nicht mehr juristisch verfolgt wurden, verabschiedeten 2003 zahlreiche Kommunalregierungen, darunter São Paulo, ein Antidiskriminierungsgesetz, und bereits zwei Jahre vor der Legalisierung der Ehe für alle erkannte der Bundesstaat São Paulo gleichgeschlechtliche Ehen an. Besonders bekannt ist São Paulo für die weltweit größte Pride-Parade, bei der im Juni an die drei Millionen Menschen entlang der Avenida Paulista zusammenkommen.

Foto: hotelchillipeppersp.com.br

Schwules Zentrum

In den Nebenstraßen dieser Hauptschlagader finden sich etliche Hotels, von denen aus sich die Stadt besonders gut erkunden lässt. So liegt das LGBTIQ*-freundliche Boutique-Hotel Vila Galé Paulista, das jedes seiner Zimmer einem anderen Künstler gewidmet hat, in direkter Nachbarschaft zur U-Bahn-Station Paulista und in unmittelbarer Nähe zur trendigen Rua Augusta. An dieser beliebten Ausgehmeile reihen sich etliche Bars und Restaurants, darunter die Leder- und Cruising-Bar São Paulo Eagle. Der benachbarte Parque Augusta ist seit 2021 vor allem am Wochenende die neuste Spielwiese der LGBTIQ*-Szene. Im Zentrum der Stadt gelegen, befand sich das Gelände in privater Hand und wurde dank einer Bürgerinitiative nun für die Öffentlichkeit geöffnet und neu gestaltet. Und so dient der Park jetzt wahlweise als Liegewiese, Sportplatz und Treffpunkt der in der Umgebung zahlreich lebenden Schwulen, Lesben und Transgender, die sich zum Picknick verabreden oder einfach ein paar Stunden Erholung suchen.

Foto: Dirk Baumgartl

Auf und um den um die Ecke liegenden Platz Praça Franklin Roosevelt trifft die sich Szene dagegen vor allem nachts. Neben gleich mehreren queeren Theatern locken zahlreiche Bars ein Publikum an, das am Wochenende für volle Straßen sorgt. Vom Roosevelt-Platz ist es dann auch nicht mehr weit zum Largo de Arouche. Dort findet man nicht nur São Paulos größte und modernste Sauna Chilli Pepper, die ebenso Zimmer mit Bett und eigenem Bad bietet, sondern auch einige Bars der Bärenszene. Hier trifft man ab und an auch Clovis Casemiro, der gleich um die Ecke ein Apartment gemeinsam mit seinem Freund und zwei Katzen bewohnt. Als Brasilien-Repräsentant der Internationalen LGBT Travel Association IGLTA ist der 64-Jährige bestens mit der Tourismusbranche vernetzt. „In den letzten Jahren hat das Interesse an queeren Touristen extrem zugenommen. Von Florianopolis im Süden über Rio und Salvador da Bahia bis zu Recife, Natal oder dem Amazonas rund um Manaus – überall finden sich Hotels und Angebote, die sich an die LGBT-Community richten.“

Foto: Dirk Baumgartl

Kunst am Bau

Für seine Stadt São Paulo hat Clovis noch einen besonderen Tipp im Stadtteil Centro: Jeweils zwischen 20 und 7 Uhr, an Wochenenden auch tagsüber, verwandelt sich die 3,5 Kilometer lange Stadtautobahn Minhocão in einen urbanen Park, den die Paulistas – so der Name der Stadtbewohner – zum Radfahren, Joggen oder auch Flirten nutzen. Mit seinen Bänken, Blumenkübeln und beeindruckender Street-Art an den flankierenden Hochhäusern ist der Minhocão São Paulos Antwort auf den New Yorker Highline Park. Unter den zahlreichen Graffitis, die oft berühmten Persönlichkeiten oder der Kultur und Natur Brasiliens gewidmet sind, findet sich auch ein Kunstwerk zum Thema Diversität, dass – natürlich – einen Regenbogen zeigt. Wer sich für Street-Art interessiert, sollte auf jeden Fall auch in der Beco do Batman im ebenfalls sehr LGBTIQ*-affinen Stadtteil Vila Madalena vorbeischauen. Zwar hat sich der einstige Geheimtipp über die Jahre zur Pilgerstätte für Instagrammer entwickelt, ein Spaziergang durch die engen Gassen mit ihren knallbunten Kunstwerken, kleinen Cafés und Boutiquen bietet dennoch eine schöne Abwechslung außerhalb des Stadtzentrums. Dank Uber oder Taxi-Apps und erschwinglicher Kosten kommt man gut und sicher durch die Stadt, denn natürlich gibt es auch außerhalb des eigentlichen Stadtkerns Centro jede Menge Treffpunkte der Szene. So stößt man im Cabaret da Cecilia im gleichnamigen Viertel auf eine alternative Hipster-Bar mit kurioser Einrichtung und einem Kellertheater, in dem vom Jazzkonzert über Dragshows bis zur Stripper Night immer etwas geboten wird.

Foto: Dirk Baumgartl

Im Restaurant Frê Forneria dagegen, das ebenfalls in Santa Cecilia liegt, treffen sich trendbewusste schwule Männer bei den Sounds eines DJs zu Cocktails und Abendessen, um sich danach auf eine der großen Partys zu stürzen. Nachdem der größte und bekannteste Klub Brasiliens, The Week, schließen musste, trifft man sich nun zu riesigen Circuit-Partys an wechselnden Orten, die vom „The Week“-Macher André Almada unter der Marke The New World (TNW) organisiert werden. Und wer nach durchtanzter Nacht seinen Kater mit leckeren Burgern auskurieren will, schaut bei Castro Burger im Stadtteil Vila Mariana vorbei. Während die campe Einrichtung samt kleinem „Altarbereich“ für LGBTIQ*-Ikonen wie Elton John, Cher oder Harvey Milk zum Schmunzeln einlädt, stehen für die Burger Verpackungen in den Farben des Regenbogens bereit. Und auch die in der Szene von São Paulo allgegenwärtige Parole „Fora Bozo“ („Bozo raus“), die sich gegen Brasiliens homophoben und umstrittenen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro richtet, prangt deutlich sichtbar an der Theke. Welchen politischen Weg Brasilien in Zukunft geht, wird sich bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen im Oktober entscheiden. Ginge es nach São Paulos LGBTIQ*-Szene, steht der Verlierer bereits fest.

Foto: Dirk Baumgartl

INFO

www.cidadedesaopaulo.com

ANREISE

Lufthansa fliegt täglich ab ihrem Drehkreuz in Frankfurt nonstop zum internationalen Flughafen São Paulo-Guarulhos (GRU). Wer innerhalb Brasiliens oder aus Südamerika anreist, sollte den im Stadtzentrum gelegenen Flughafen Congonhas (CGH) wählen. www.lufthansa.com

HOTEL

Das 4-Sterne-Hotel Vila Galé Paulista befindet sich im Herzen von São Paulo wenige Meter von der Avenida Paulista entfernt und liegt nahe der Rua Augusta mit ihren zahlreichen Bars, Restaurants, Kinos und Theatern. Der Pool im Hinterhof lädt zu einem Sprung ins erfrischende Nass nach einer ausgiebigen Stadtbesichtigung ein. www.vilagale.com

Foto: vilagale.com

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