Brexit: Zweifelhafte Ehre für schwulen Kriegshelden

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Es ist ein Last Minute Deal: Bis zum 31. Dezember hatten EU und Großbritannien Zeit, sich zu einigen, ansonsten wäre ein No-Deal-Brexit erfolgt. Gestern gab Premierminister Boris Johnson stolz bekannt, man habe sich geeinigt – endlich. In einer Pressekonferenz erklärte er die Details. Eines davon ist aus queerer Sicht besonders pikant: Das Studentenaustauschprogramm Erasmus wird für die Briten gestrichen, ein geplanter Ersatz soll nach Alan Turing benannt werden, dem schwulen Kriegshelden und Opfer der britischen Regierung.

Seit gestern steht fest: Mit dem Brexit steigen britische Student*innen auch aus dem Studentenaustauschprogramm Erasmus aus. Das weltweit größte Förderprogramm von Auslandsaufenthalten an Universitäten ermöglicht Student*innen, Semester in anderen Ländern der EU (und seit 2003 auch weltweit) zu verbringen.

Am Ende ging es ums Geld: Johnson erklärte, es sei eine schwierige Entscheidung gewesen, aus dem Erasmus-Programm auszusteigen, doch sei das Programm nach dem EU-Austritt aus staatlicher Sicht zu teuer. Stattdessen gäbe es nun ein exklusives Programm für britische Student*innen, die in die Welt hinaus gehen möchten.

„Es wird das Turing-Programm genannt werden. Die Studenten werden also die Möglichkeit haben - benannt nach Alan Turing - nicht nur an europäische Universitäten zu gehen, sondern an die besten Universitäten der Welt. Wir wollen, dass unsere jungen Leute die immense intellektuelle Stimulation Europas, aber auch der ganzen Welt erleben.“

Foto: Think London / CC BY 2.0 / wikimedia.org

Das Erasmus-Programm, benannt nach dem niederländlichen Renaissance-Humanisten, wurde 1987 eingeführt, der Verlust für Großbritanniens Universitäten wird von Kritikern als immens erachtet. Die schottische Ministerin Nicola Sturgeon gehörte zu den vielen, die den „kulturellen Vandalismus“ der Regierung beim Ausstieg aus dem Programm beklagten, das insgesamt über 300.000 britischen Studenten ein Studium an ausländischen Universitäten ermöglichte.

Das Ersatzprogramm der britischen Regierung soll nun ausgerechnet nach Alan Turing benannt werden – dem britischen Helden aus dem zweiten Weltkrieg und einem der bekanntesten Opfer staatlicher Homophobie in Europa.


Britische Regierung trieb Turing in den Suizid

Alan Turing gilt als Kriegsheld, als einer der intelligentesten Köpfe seiner Generation und als eines der berühmtesten Opfer staatlicher Homophobie. Aus heutiger Sicht ist Turing einer der einflussreichsten Theoretiker der frühen Computerentwicklung, er legte den Grundstein für künstliche Intelligenz.

2014 wurde seine Lebensgeschichte mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle verfilmt. Der Film The Imitation Game - Ein streng geheimes Leben befasst sich mit Turings Rolle in der Beendigung des zweiten Weltkrieges durch die Entschlüsselung von deutschen Funksprüchen, die mithilfe der Rotor-Chiffirermaschine Enigma codiert wurden.

Foto: turingarchive.org / CC0

Die besondere Tragik in Turings Geschichte liegt in den Jahren nach dem Weltkrieg: Statt Dank und Ehre zu erhalten, wurde Turing von der britischen Regierung verfolgt – weil er homosexuell war. Da Homosexualität damals unter Strafe stand, wurde Turing im März 1952 schließlich vor die Wahl gestellt: Gefängnis oder chemische Kastration. Er wählte die Hormontabletten und nahm sich zwei Jahre später das Leben, vermutlich aufgrund von durch die Tabletten hervorgerufenen Depressionen.

2009 – mehr als 5 Jahrzehnte danach – entschuldigte sich der damalige britische Premierminister Gordon Brown im Namen der Regierung offiziell bei dem verstorbenen Informatiker und würdigte seine Verdienste während des Krieges. Am Heiligabend 2013, sieben Jahre vor Verkündigung des Brexitdeals, sprach Königin Elisabeth II. für Turing eine königliche Begnadigung aus, ein sogenanntes „Royal Pardon“.


Twitter ist „not amused“

Zweifellos soll auch das nach Turing benannte Austauschprogramm eine Wiedergutmachung und Ehrung des Wissenschaftlers sein. Im Internet kam Johnsons Ankündigung allerdings nicht so gut an.

Viele Twitter-Nutzer bezeichneten die Entscheidung, das Erasmus-Programm zu verlassen, als dumm, engstirnig und rückschrittig. In der Konsequenz sehen sie es als grobe Beleidigung an, einen solchen Schritt ausgerechnet im Namen von Alan Turing zu unternehmen.

Ein User schrieb:

„Ich bin mir heutzutage über sehr wenig sicher. Aber ich bin mir sicher, dass Alan Turing es hassen würde, wenn sein Name mit einer solchen absichtlichen Verengung des Horizonts in Verbindung gebracht wird.“  

Ein anderer warf der Regierung vor, Turings Namen zu stehlen und für ihre Zwecke zu missbrauchen:

„Die britische Regierung hat uns aus dem Erasmus-Programm herausgerissen und schafft ein eigenes Programm, das „Turing-Programm“, benannt nach Alan Turing. Das Vereinigte Königreich hat Alan Turing chemisch kastriert, weil er schwul war, und er hat sich umgebracht. Und jetzt klauen sie seinen Namen für ein schäbiges Brexit-Programm.“

„Turing war ein echter Experte, ein echter Held, der chemisch kastriert wurde und schließlich durch die Hand des Staates starb. Ich frage mich, wie er sich fühlen würde, wenn sein Name für ein Projekt verwendet würde, das nur einem Land hilft, anstatt vielen.“

Andere nutzten ihr Wissen über Turings Biographie, um eine Behauptung herauszuarbeiten: Der Mathematiker wäre immer für die Idee eines gemeinsamen Europas gewesen – und niemals für den Brexit.

„Er wäre absolut entsetzt gewesen.  Turing war ein leidenschaftlicher Antifaschist, glaubte aber, dass Europa für ein gemeinsames Ziel zusammenarbeiten könnte und sollte, um nie wieder zuzulassen, dass sich der Autoritarismus erhebt. Er wäre sehr pro-EU gewesen.“

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