Cancel Culture in China: Grindr-App nicht mehr verfügbar

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Laut Informationen des auf Mobilfunk spezialisierten Forschungsunternehmens Qimai wurde Grindr bereits am 27. Januar aus dem App-Store von Apple entfernt. Aber auch im Play-Store von Alphabet sowie auf Plattformen, die von chinesischen Unternehmen betrieben werden, ist die vornehmlich an Männer* gerichtete Dating-App nicht mehr zu finden. Zwei Hauptbeweggründe für den zentralistisch-autoritären Staat sind schnell identifiziert. Zur Einordnung ein Kurzrückblick auf die merkwürdige Geschichte einer China-Cruising-Connection. 

Xi was watching you!

2016 hatte das chinesische Software-Unternehmen Beijing Kunlun Tech Co Ltd Grindr über seine US-Dependance in Kalifornien gekauft (männer* berichtete). Auf Druck der US-Behörden musste das Unternehmen die App im Jahr 2020 an Investoren verkaufen (männer* berichtete). Washington witterte Gefahr für die nationale Sicherheit, weil sensible Daten für Erpressungsversuche durch China missbraucht hätten werden können (männer* berichtete).

So bigott schwules Leben in der Causa Grindr auf beiden Seiten des Pazifiks politisiert wurde, so unlogisch oder auch naheliegend ist der Gedanke, die Staatsführung habe sich nun aus gekränkter Eitelkeit zu einem Marktverbot hinreißen lassen. Viel wahrscheinlicher sind zwei sich seit Jahren gegenseitig beschleunigende Gesellschaftsprozesse: Die dogmatische Fokussierung auf verklärte kulturelle wie gesellschaftspolitische Werte und Nomen des Maoismus nach innen und die geschickte Ausnutzung der Mechanismen des globalen Kapitalismus nach außen: Marktmacht und ihr folgend politische Macht durch aggressive Investitionsinvasionen bei gleichzeitiger Abschottung des Binnenmarktes. Seit Jahren drängt China in immer mehr Wirtschaftsbereichen ausländische Mitbewerber vom heimischen Markt. 

Renaissance der Kulturrevolution: Queer passt nicht zum Menschenbild

Seit 1997 ist Homosexualität in China nicht mehr strafbar. Gleichgeschlechtliche Partnerschaften werden dennoch nicht staatlich anerkannt und LGBTIQ*-Themen, so gut es die Staatsführung hinbekommt, aus dem öffentlichen Diskurs herausgefiltert. Nicht nur sind in Schulen und Betrieben alle Lerninhalte und Systeme auf das Wohl der Volksgemeinschaft verengt, Aufklärungsbemühungen von Aktivist*innen und sogar ganze Forschungsprojekte an Universitäten werden systematisch so lange gegängelt, bis sie sozusagen ganz freiwillig aufgeben.

Hypermodern: Kampagne „sauberer Cyberspace“ 

Im Vorfeld der Olympischen Winterspiele und der Neujahrsfeiern hatte die chinesische Internetbehörde eine einmonatige Kampagne gegen Gerüchte, Pornografie und andere sensible Webinhalte angekündigt. Ziel der Kampagne „sauberer Cyberspace“ sei es,

„eine zivilisierte, gesunde, festliche und glückverheißende Atmosphäre im Internet“

zu schaffen. Im Sommer des letzten Jahres hatte sich die staatliche Rundfunkregulierungsbehörde (NRTA) in Peking bereits die Unterhaltungsindustrie vorgenommen und sich dabei insbesondere mit dem Verhalten von Prominenten und Fangruppen beschäftigt (männer* berichtete).

Sogar in Filmen dürfen keine homosexuellen Liebesbeziehungen gezeigt werden. immer wieder kommt es diesbezüglich zu staatlichen Zensurmaßnahmen bei Kino- und Fernsehproduktionen. Zuletzt erregte die Heteronormativierung des Friends Reunion Specials weltweit Aufmerksamkeit. Sogar ein Auftritt von Lady Gaga wurde in Chinas Version des Serienspecials nicht gezeigt (männer* berichtete). „Born This Way?“ Dagegen gibt es was aus der Kaderschmiede!

Die Corona-Pandemie beschleunigte die technischen und politischen Kontrollbestrebungen der linientreuen Wächter über die vor lauter glückverheißender Atmosphäre den Smog nicht mehr thematisierende chinesische Zivilbevölkerung. Schöne neue Welt.

Schlussfolgerung: Retourkutsche, Homophobie oder doch Protektionismus?

Wer diese Entwicklungen des Landes der Mitte und die fast wahnhaft-hysterischen Reaktionen auf leiseste westliche Kritik in seine Skizze der Volksrepublik China einbezieht, wird wohl folgern: Wahrscheinlich ist eine Mischung aus allem der Auslöser für die Löschung von Grindr. Das Volk wird vor vermeintlich westlichem Einfluss geschützt, jener Westen getriggert und der boomenden Digitalwirtschaft zu Hause der Rücken freier gemacht.  *AFP/sah/ck


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