Ukraine: In Trauer vereint

Wie das Sterben in Putins Krieg gegen westliche Werte die Leiden gleichgeschlechtlich Liebender ohne Trauschein plötzlich sichtbar und – noch wichtiger – emotional greifbar macht.

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Selbst inmitten des Krieges werden ukrainische Aktivist*innen nicht müde, für ihre Rechte zu kämpfen. Ende September trotzte die LGBTIQ*-Community in der nordöstlichen Stadt Charkiw dem anhaltenden Beschuss und feierte eine Woche lang Pride. Das Motto: „Vereint wie nie zuvor.“

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine haben viele queere Ukrainer*innen zur Waffe gegriffen, um sich gegen die russische Besetzung zu wehren (männer* berichtete). Sie alle sind sich darüber bewusst, dass ihre Partner*innen keine Möglichkeit hätten, Entscheidungen für sie zu treffen, wenn sie verletzt würden, geschweige denn Ansprüche auf Leistungen hätten, wenn sie getötet würden. Denn die ukrainische Gesetzgebung beraubt die LGBTIQ*-Community immer noch vieler Rechte, die für heterosexuelle Menschen selbstverständlich sind.

Die Verfassung der Ukraine stellt in Artikel 51 ganz klar fest, dass die Eheschließung auf der freiwilligen Zustimmung von Mann und Frau beruht. Das ukrainische Familiengesetzbuch wiederum bestimmt ganz eindeutig, dass „die Ehe eine im staatlichen Personenstandsregister eingetragene Familienvereinigung zwischen einer Frau und einem Mann ist“ (Artikel 21). Es gibt auch keine Gesetzgebung zur Lebenspartnerschaft, das heißt, homosexuelle Paare in der Ukraine können weder Unterhalt beziehen noch das Eigentum ihres Partners oder ihrer Partnerin erben oder bei medizinischen Entscheidungen als Angehörige auftreten. Auch die Adoption von Kindern ist nur als Individuum möglich, jedoch nicht als schwules oder lesbisches Paar.

Foto: STR / NurPhoto / NurPhoto via AFP

„Vereint wie nie zuvor“?

Fragen nach Gleichberechtigung und Gleichstellung rücken durch den anhaltenden Krieg stärker denn je in den Fokus und es scheint, als würde Putins Krieg gegen westliche Werte die Leiden gleichgeschlechtlich Liebender ohne Trauschein plötzlich sichtbar und emotional greifbarer machen. Im Juni dieses Jahres erreichte eine Petition zur Legalisierung der Ehe für alle innerhalb kürzester Zeit die notwendigen 25.000 Unterschriften, um automatisch durch den Präsidenten geprüft werden zu müssen.

Aktivist*innen waren überrascht über die Unterstützung, die sie erhielten, und auch über die Reaktion des Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der schrieb:

Vielen Dank an alle, die sich dieser Petition angeschlossen haben, für ihre aktive bürgerschaftliche Haltung. In der modernen Welt wird das Niveau der demokratischen Gesellschaft gemessen, auch durch die staatliche Politik, die darauf abzielt, allen Bürgern gleiche Rechte zu gewährleisten. Jeder Bürger ist ein untrennbarer Bestandteil der Zivilgesellschaft, alle Rechte und Freiheiten, die in der Verfassung der Ukraine verankert sind, gelten für ihn. Alle Menschen sind frei und gleich in ihrer Würde und ihren Rechten. Menschenrechte und Freiheiten sind unveräußerlich und unantastbar (Artikel 21 der Verfassung der Ukraine).

Weiters verwies Selenskyj darauf, dass die Ehe laut ukrainischer Verfassung auf „der freien Zustimmung einer Frau und eines Mannes“ beruhe, also ein Bund zwischen Mann und Frau sei. Eine Verfassungsänderung sei während eines Kriegs- oder Ausnahmezustands nicht möglich, so Selenskyi. Jedoch arbeite seine Regierung an Plänen zur Legalisierung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften und er habe seinen Premierminister beauftragt, den Sachverhalt zu untersuchen und Bericht zu erstatten.

In Anbetracht dessen wandte ich mich an den Premierminister der Ukraine mit der Bitte, das in der elektronischen Petition aufgeworfene Problem zu prüfen und über die entsprechenden Ergebnisse zu informieren.

V. SELENSKY

Foto: Sergei Supinsky / AFP

Zunehmende Unterstützung in der Bevölkerung

Seit 2013 stieg die Zahl der Ukrainer*innen, die das Recht homosexueller Paare unterstützen, ihre familiären Beziehungen offiziell zu registrieren, von 33 auf 53 Prozent. Die Ehe aber sehen viele lieber unangetastet. Schritte in Richtung Ehe für alle lehnt die ukrainische Gesellschaft nach wie vor entschieden ab. Entsprechend fordern Aktivist*innen die Einführung der Lebenspartnerschaft anstelle der Ehe. Es scheint die realistischere Option zu sein. 

„Das Büro des Präsidenten weiß das, deshalb arbeiten alle an Lebenspartnerschaften, obwohl dieses Gesetz die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare immer noch einschränken wird“, so Sviatoslav Sheremet, Koordinator für Politik und Gesetzgebung beim National MSM Consortium, einer Arbeitsgruppe zum Recht der eingetragenen Lebenspartnerschaft. „Einfacher wäre es, das Erfordernis der Heterosexualität aus dem Rechtsbegriff der Ehe zu streichen. Machen Sie eine Ehe nach einer universellen Formel, unabhängig vom Geschlecht, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie besser sein wird als Lebenspartnerschaften. Die Ukraine braucht eine völlig neue Verfassung, die die Beziehungen regelt.“

Weil der Staat zudem nur zögerlich vorgeht, entwickeln NGOs ihre eigenen Vorschläge. „Wenn die Zivilgesellschaft in der Ukraine einen hochwertigen Gesetzesentwurf ausgearbeitet hat, berücksichtigt der Staat ihn normalerweise und verbessert ihn, um ein einheitliches gemeinsames Produkt zu erhalten“, erklärte Sheremet dem Institute for War & Peace Reporting und fügte hinzu, seine Organisation habe gemeinsam mit Gesundheitslobbygruppen und der Dachorganisation des National LGBT Consortium einen Entwurf ausgearbeitet. Laut ihrem Gesetzentwurf würde die Institution der Lebenspartnerschaft homosexuellen Paaren die meisten Rechte und Pflichten gewähren, die in der Ehe für heterosexuelle Paare bestehen. Aufgrund anhaltender Vorurteile würden Lebenspartnerschaften als vertrauliche Informationen betrachtet, die beispielsweise nicht an einen Arbeitgeber weitergegeben werden müssen. „Der Gesetzesentwurf wurde vor einigen Wochen an mehrere politische Abteilungen geschickt. Wir haben noch keine Antwort erhalten“, sagte Sheremet.

Ein weiterer Gesetzentwurf über Lebenspartnerschaften wird derzeit von der Abgeordneten Inna Sovsun von der Voice-Partei zusammen mit Fulcrum UA entwickelt. Andere ukrainische Gesetzgeber wiederum stellen sich entschieden gegen die Anerkennung homosexueller Partnerschaften. Drei Abgeordnete haben kürzlich sogar Gesetzesentwürfe eingebracht, die darauf abzielen, homosexuelle „Propaganda“ zu verbieten. 

Bringt der Krieg die eingetragene Partnerschaft?

Für Timur Levchuk, Mitbegründer der NGO Fulcrum UA, die an einem Gesetzentwurf zur Lebenspartnerschaft arbeitet, führt der Weg zur eingetragenen Lebenspartnerschaft über das Militär. Das Beispiel von queeren Soldat*innen, die für ihr Land kämpfen, sei der Schlüssel, um Gegner*innen davon zu überzeugen, eine Gesetzesänderung zu unterstützen. 

„Man kann 20 Jahre zusammenleben und hat keine Rechte. Sie haben Glück, wenn die Familie Ihres Partners Sie akzeptiert, aber es gibt viele Fälle, in denen die Familie homophob ist. Das heißt: keine staatlichen Leistungen, keine Möglichkeit, sich zu verabschieden, keine Möglichkeit, den Leichnam zu bestatten, kein Anspruch auf Entschädigung. Wenn Ihr Partner verletzt wurde, können Sie keine Entscheidungen über seine Gesundheit treffen.“

„Wann, wenn nicht jetzt, sollen wir uns um das Militär kümmern?“ fragt Levchuk  „Wir haben keine Garantie dafür, dass alle LGBTI [Soldat*innen] lebend von der Front zurückkehren. Ich wünschte, diese Leute wüssten, dass sie für ein Land kämpfen, das ihnen irgendwann Bürgerrechte verlieh. Ich möchte nicht, dass sie sterben, ohne gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare in der Ukraine zu erhalten.“

Foto: Oleksandr Gimanov / AFP

„Die einzige Möglichkeit, unseren Gesetzesentwurf zu verabschieden, besteht darin, zu betonen, dass er die Probleme des Militärs löst“, ist sich Levchuk sicher. „Nur so besteht die Chance, dass ein solches Projekt schnellstmöglich gesetzlich verankert und akzeptiert wird.“

„Es ist wichtig, dass LGBTQ-Menschen das Recht haben, ihren Partner zu sehen und ihren Körper aus dem Leichenschauhaus zu holen und bei Bedarf eine Entschädigung zu verlangen“, sagt auch Oksana Solonska, Medienkommunikationsmanagerin bei Kyiv Pride, gegenüber der BBC. „Alle verheirateten Paare haben diese Rechte. Wir hoffen wirklich, dass die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert wird, damit die Menschen füreinander sorgen können.“

Putins Pech?

Es wäre schon ein starkes Stück des Schicksals, wenn ausgerechnet der Feldzug Putins und seiner Ideologen gegen die verweichlichten westlichen Werte und ihre Gay Prides jene nun endlich auch in der Ukraine mehrheitsfähig machte. 

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