Bahnbrechendes Urteil zu Hass und Meinungsfreiheit im Internet

by

Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Hatespeech im Internet könnte wegweisend im Kampf gegen Internethetze sein.

Kastrieren, töten, ausrotten

Pijus Beizaras und Mangirdas Levickas, zwei litauische Staatsangehörige, hatten im Dezember 2014 ein Foto auf Facebook gepostet, auf dem die beiden sich küssten. Das Foto zog in Litauen eine Welle an homophoben Kommentaren nach sich, in denen unter anderem dazu aufgerufen wurde, die beiden wegen ihrer Homosexualität „zu kastrieren“, „zu töten“, „auszurotten“ und „zu verbrennen“.


Gericht sieht „exzentrisches Verhalten“ (den Kuss!) als Auslöser 

Der litauische Staatsanwalt, der ein Strafverfahren wegen Anstiftung zu Hass und Gewalt gegen Homosexuelle einleiten hätte sollen, weigerte sich jedoch, Ermittlungen aufzunehmen. Er war der Ansicht, die Verfasser der Hass-Kommentare hätten lediglich „ihre Meinung zum Ausdruck gebracht“. Deren Verhalten, das der Staatsanwalt zwar als „unethisch“ bezeichnete, rechtfertige insgesamt keine strafrechtliche Verfolgung.

Ein litauisches Gericht stimmte der Haltung der Staatsanwaltschaft in einem endgültigen Urteil vom Februar 2015 zu und bestätigte dieses uneingeschränkt. Darüber hinaus beschuldigte das Gericht Beizaras und Levickas der absichtlichen Provokation: Deren „exzentrisches Verhalten“ habe nicht zur Förderung des sozialen Zusammenhalts und der Toleranz von Menschen mit unterschiedlichen Meinungen in der Gesellschaft beigetragen.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Hass ist keine Meinung!

In einem einstimmigen Urteil stellte der EGMR am 14. Januar 2020 einen Verstoß gegen Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention in Verbindung mit Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) und Artikel 13 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) fest.

Der EGMR kam auch zu dem Schluss, dass die litauischen Behörden einen deutlichen Mangel an Bereitschaft zur Verfolgung der Täter erkennen ließen und auf homophobe Hassreden im Internet systematisch nicht reagiert haben.

Robert Wintemute, Professor für Menschenrecht am King‘s College London (UK) und Mitvertreter der Anklage, sagte: 

„Ich bin sehr erfreut, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine so starke Botschaft an die nationalen Behörden in ganz Europa gesendet hat, dass sie die Anti-LGBTI-Hassreden ernst nehmen und den Beschwerden nachgehen müssen, selbst über einen einzigen hasserfüllten Kommentar auf Facebook, geschweige denn über einen, dass LGBTI-Personen getötet werden sollten.“

„Das heutige Urteil wird immer wichtiger, um die positiven Verpflichtungen des Staates bei der Bekämpfung von Hassreden gegen LGBTI in Litauen und in den Mitgliedsstaaten des Europarates inmitten der Zunahme des Hasses in einer Reihe von Ländern festzulegen“, sagte Arpi Avetisyan, leitender Prozessbevollmächtigter von ILGA-Europe.

Back to topbutton