Intersexualität: Folgen, Forderungen und Fortschritte

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Inter* Personen haben bis heute mit großen Problemen zu kämpfen. Die Zukunft dieser Diskussion liegt für viele Expert*innen in einem Gender-Selbstbestimmungsrecht und dem Abschied vom rein biologischen Geschlechterverständnis. Ein Überblick.

Angesichts von erzwungenen Operationen erlitten und erleiden inter* Menschen vielfach körperliche und seelische Schmerzen. 

Man könnte den Clownfisch (kann das Geschlecht wechseln) oder den Maulwurf (auch die Weibchen haben Hoden) heranziehen, um das Phänomen Intergeschlechtlichkeit zu verdeutlichen. Man könnte aber auch einfach akzeptieren, dass sich die Natur keineswegs auf die Geschlechter „männlich“ und „weiblich“ festlegt.

So gibt es auch beim Menschen vielfältige Möglichkeiten, „dazwischen“ zu sein. Inter* Menschen (früher auch als Zwitter oder Hermaphroditen bezeichnet) haben allerdings bis heute darunter zu leiden, dass die Gesellschaft dieses „dazwischen“ meist nicht akzeptiert und sie daher als krank, unvollständig oder gehandicapt betrachtet.

Nur in einem Teil der Fälle handelte es sich dabei um medizinisch notwendige Eingriffe, die meisten Fälle waren kosmetischer Natur, und entsprachen dem Wunsch von Eltern und Ärzt*innen nach geschlechtlicher Eindeutigkeit.

Die Folgen dieser Betrachtungsweise wiegen schwer: Noch bis Anfang der 2000er-Jahre lauteten die ärztlichen Empfehlungen, das uneindeutige Genital solle chirurgisch an die „normale" weibliche oder männliche Entwicklung angepasst werden - am besten innerhalb der ersten sechs Lebensmonate, wie noch 2003 in der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Urologie zu lesen war.

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Doch nur in einem Teil der Fälle handelte es sich dabei um medizinisch notwendige Eingriffe, die meisten Fälle waren kosmetischer Natur, und entsprachen dem Wunsch von Eltern und Ärzt*innen nach geschlechtlicher Eindeutigkeit. Interessenverbände hatten diese Praxis schon früh als Verstümmelung und Verstoß gegen elementare Menschenrechte kritisiert. „Ich war am Ende ein komplett verunsichertes Wesen“, berichtet beispielsweise die inter* Person Lynn D. im WDR. „Hätte ich „Ich“ sein dürfen, wäre es nicht leicht gewesen, aber ich hätte wenigstens ich sein dürfen.“

Angesichts von erzwungenen Operationen erlitten und erleiden inter* Menschen wie Lynn vielfach körperliche und seelische Schmerzen. 

Deutschland macht Fortschritte

Doch Deutschland macht Fortschritte: 2007 überarbeitete die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin ihre Richtlinien und auch der Deutsche Ethikrat empfiehlt seit 2012, dass das Kind selbst über sein Geschlecht entscheiden soll – und zwar dann, wenn es alt genug ist. Seit im Jahr 2013 das Personenstandsgesetz geändert wurde, muss das Geschlecht inter* Säuglingen nicht mehr in das Geburtenregister eingetragen werden, sodass zumindest kein rechtlicher Grund für Zwangsoperationen an ihnen mehr besteht.

Eingriffe dürfen nur nach der Einwilligung der Person erfolgen oder müssen gerichtlich genehmigt werden.

Nach einem bahnbrechenden Bundesverfassungsgerichtsurteil wurde im Jahr 2018 im Personenstand die dritte Geschlechtsoption „divers“ eingeführt, denn das Grundgesetz erzwinge keine binäre Geschlechterordnung, so die Richterinnen und Richter.

Und im März 2021 verabschiedete der Bundestag das „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“, wodurch Operationen und Behandlungen an inter* geborenen Kindern sogar verboten sind, wenn sie nur der Angleichung an ein Normgeschlecht dienen sollen. Eingriffe dürfen demnach nur nach der Einwilligung der Person erfolgen oder müssen gerichtlich genehmigt werden.

Inter* haben weitergehende Forderungen

Alles in Butter also für inter* Menschen? Keineswegs. So weist beispielsweise der Verein Intersexuelle Menschen e.V. darauf hin, dass das neue Gesetz Schwachstellen habe: Der Schutz des Gesetzes sei auf die Kinder begrenzt, die eine Diagnose aus dem Bereich „Variante der Geschlechtsentwicklung“ hätten – Kinder ohne eine solche Diagnose könnten weiterhin operiert werden.

Interessenverbände fordern die Schaffung verbindlicher „Standards of Care“, die Aufnahme von Intersexualität in die Lehrpläne, die Entschädigung und Rehabilitation geschädigter Betroffener sowie eine Einarbeitung des Begriffes „Intersexualität“ in geltendes Recht.

Sinnvoll wäre es nach Ansicht des Vereins außerdem, das Verbot einer Auslandsumgehung zu regeln sowie ein Zentralregister zur Aufbewahrung der Patient*innenakten einzuführen. Darüber hinaus fordern Interessenverbände die Schaffung verbindlicher „Standards of Care“, die Aufnahme von Intersexualität in die Lehrpläne, die Entschädigung und Rehabilitation geschädigter Betroffener sowie eine Einarbeitung des Begriffes „Intersexualität“ in geltendes Recht.

Modernes Gender-Selbstbestimmungsrecht

Die Zukunft dieser Diskussion liegt für viele Expert*innen in einem Gender-Selbstbestimmungsrecht und dem Abschied vom rein biologischen Geschlechterverständnis. Geschlecht soll künftig nicht länger etwas sein, das von außen zugeschrieben werden kann, sondern weil jede Person selber am besten darüber Bescheid weiß, auch nach eigenem Verständnis entscheiden kann.

Es wäre eine enorme Erleichterung für inter* Menschen. Doch bis dahin dürfte, trotz der Hoffnungen, die die neue Bundesregierung in ihrer Koalitionsvereinbarung auch ihnen macht, noch ein langer Weg zu gehen sein. 


Die UNO geht davon aus, dass Intergeschlechtlichkeit auf bis zu 1,7 % der Weltbevölkerung zutrifft, in Deutschland schätzt man die Zahl der inter* Personen auf etwa 100.000.

In der Medizin hat die sogenannte DSD-Klassifikation gängige Überbegriffe wie „Intersexualität“ weitgehend abgelöst. DSD steht für „Disorders of Sex Development“ (Störungen/Varianten der Geschlechtsentwicklung). Eine Klassifikation, die von vielen Inter abgelehnt wird, steht sie doch für die Idee, es gäbe körperlich kein „dazwischen“, sondern nur Männer und Frauen mit körperlichen Störungen oder Fehlentwicklungen.

Mehr Informationen unter:

www.im-ev.de

www.dgti.org

www.trans-inter-beratungsstelle.de


Übrigens ... 

Cisgender lautet die Bezeichnung für Menschen, deren Geschlechtsidentität auch dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.

Das * (Gendersternchen) bezeichnet gleichzeitig Männer und Frauen, und zusätzlich auch alle anderen Geschlechteridentitäten.

Intersexualität liegt vor, wenn Menschen angeborene Geschlechtsmerkmale haben, die genetisch, hormonell und oder anatomisch nicht eindeutig in die Kategorien männlich oder weiblich passen.

Nichtbinär (auch: non-binär) bedeutet, dass man sich nicht in das herkömmliche, zweigeteilte Geschlechtersystem, also Mann und Frau, einordnen kann oder will. Ein anderes Wort dafür ist auch Genderqueer.

Der Begriff Transgender wird oft verwendet, wenn Menschen die ihnen von der heterosexuellen Norm zugewiesene Geschlechterrolle ablehnen.

Von Transsexualität oder Transidentität wird dann gesprochen, wenn sich Menschen nicht mit dem Geschlecht identifiezieren, in dem sie bislang gelebt haben.

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