Posse um Post von Post: Bremen ist überall

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Aktivist Marcel Rohrlack kritisiert einen Tweet des SPD-Politikers Florian Post. Was folgte, zeigt symptomatisch den Einfluss protofaschistischer Denkstrukturen auf die Gesellschaft. Auch bis tief in die queere Szene. Das Gift der Hetzer wirkt.

Der Münchener Marcel Rohrlack (Grüne) wurde 2015 bundesweit bekannt, als er nach einem CSD-Besuch in Drag brutal zusammengeschlagen wurde. In der damaligen, durch AfD-Hetze, Schlagworte wie Asyltourismus (Markus Söder) und islamistische Anschläge in Europa aufgeheizten Stimmung, wurde sein Fall von Maulhelden wie dem Blogger David Berger instrumentalisiert.

Rohrlack ließ sich davon, obwohl erst gerade 18 Jahre alt, nicht in seinem Aktivismus bremsen. Vielleicht spornte es ihn sogar an. Vielleicht machte ihn die traumatische Erfahrung empathischer für durch Abwertung ihres Menschseins Diskriminierte?

Wer applaudiert denn da?

Er machte jedenfalls am 26. Juli 2021 auf einen Tweet des SPD-Politikers Florian Post aufmerksam, in dem dieser eine bei einem CSD fotografierte Szene kritisiert:

„Ich finde das abstoßend. Möchte nicht, dass meine zwei kleinen Töchter derartiges „erleben“ und das dann auch noch als völlig normal bezeichnet wird, wenn man sich so vor kleinen Kindern präsentiert. Will ich jetzt mal als alter, weißer 40 jähriger Mann so sagen #nichtnormal“ 

Post verteidigt seine Meinung heute immer noch vehement. Und bekommt dafür viel Applaus. Lässt die Kommentierenden die ganze Klaviatur dessen, was aus Polen, Ungarn, der AfD oder dem gerade wieder eskalierenden Kulturkrieg um geschlechtliche Vielfalt in den USA, bekannt ist, spielen. Schutz der Kinder, Pädophilie, Normalität ...

Foto: LAPD

Vorhersehbar diskreditiert Florian Post den Widerspruch gegen seine Meinungsäußerung als faschistische Methoden und sieht sich in der Opferrolle.

Das inkriminierte Foto, aufgenommen 2015 bei einem Pride in den USA, just jetzt und ganz zufällig ein Post von Post? Vermutlich nicht so ganz zufällig, denn nur einen Tag später steht, oder besser hängt die Post-Post-Posse auf den Straßen Münchens. 

So weit, so schmutzig. Bundestagswahlkampf 2021.

Frühe Aufklärung für das Kindeswohl 

Unabhängig davon, ob man persönlich der Meinung ist, dass Kinder und CSD zusammengehören, ist die Szene auf dem Bild des Posts von Herrn Post ein guter Argumentverstärker. Für jene, die nicht in jedem Quadratzentimeter nackter Haut den Sittenverfall wittern wie der Teufel das Weihwasser. Jene, die sich aus Denkmustern der Abwertung, der Scham, der Prüderie befreit haben und einen selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen und dem Körper anderer fordern und leben. Kinder sind nicht moralisch verdorben wie die, die bei diesem Bild an Pädophilie und Missbrauch denken. Gegen Letzteres hilft ein freier Geist. Kinder, die Dinge benennen können, können auch leichter artikulieren, was ihnen nicht gefällt. Den Übergriff des Onkels im Zweifel oder später die gewaltsame Darstellung von Sexualität auf dem Smartphone. 

Foto: Arne Weychardt

Kinder sind erst einmal offen, neugierig – urteilen später. In der professionellen Kinderbetreuung weiß mensch dies heute und geht seit Langem andere Wege, als es Konservative wohlfeil den religiösen Fundamentalisten, Rassisten und Rechtsextremen indoktriniert durch Jahrhunderte unterdrückerischer Denkschablonen nachplappern. Und diese sind es übrigens auch, die das Bild schon seit 2015 immer wieder im Kreis posten, um Stimmung gegen Homosexuelle zu machen. Und diese sind es auch, die schon in einem harmlosen Kinderbuch Homopropaganda vermuten. 

Fotos: Dr. Christina Baum / Facebook; Riccardo Simonetti / Instagram

Meinung

Ist Bremen überall?

Und was hat das jetzt mit Bremen zu tun? Alles und nichts. Denn einerseits entgleiste die Diskussion über ein Fetisch- und nun Sex-Verbot durch den CSD Bremen e. V. auf sehr ähnliche Weise wie jetzt die Debatte um Florian Post. Aber sie war vom Verein so nicht erwartet und schon gar nicht gewollt (männer* kommentierte). Die Reaktion mit Verweis auf die in der Präambel seiner Visionen und Grundsätze formulierte Debattenoffenheit war und ist kein Feigenblatt, um sich aus der Affäre zu ziehen. Der Verein hatte auch keine fertigen Memes und Kampagnenplakate vorbereite, als er die Grundsätze im November 2020 online stellte. Der betreffende und inzwischen konkretisierte Text ist zudem, wie der Post von Post exemplarisch aufzeigt, Spiegelbild der gesellschaftlichen Realität in Deutschland und gleichzeitig ist er Reaktion auf sie. Sender, Empfänger, ...

Das kann mensch als Versuch interpretieren, der wichtigsten Institution unserer Community basierend auf eigenen Erfahrungen eine Grundsatzdebatte, eine Wegmarke und vielleicht auch irgendwann so etwas wie eine daraus abzuleitende Richtung zu ermöglichen, nach der sie seit Jahren händeringend, über zu viel Party und zu wenig Inhalt klagend, sucht. Ich persönlich halte es, man lese weiter oben warum, für grundfalsch, Kindeswohl und Moral zum Leitgedanken einer queeren Verteidigungslinie gegen die Mehrheitsgesellschaft in Stellung zu bringen. Opfer sexueller Gewalt, Opfer von strukturellem Sexismus und sexualisierten Rassismus sollten ausreichen, eine offene Debatte über Sex und Fetisch beim CSD zu führen. Warum?

Der Kampf um die Deutungshoheit der Norm, des Normalen, tobt quer durch alle Bereiche unseres Lebens. Ob soziale Ungleichheit, Klimagerechtigkeit oder eben Geschlechterfragen, Identität und nicht zuletzt sexuelle Selbstbestimmung: alles wird immer wieder neu verhandelt. Nach 16 Jahren erstickender Trägheit und unterstützt durch die mächtigsten Kommunikationsmaschinen, die der Menschheit je zur Verfügung standen, verläuft die Debatte in immer schnellerer und auch härterer Weise. Wagenknecht, Schwarzer, Storch und Trump ... Sie alle haben das zu nutzen, virtuos erlernt. Gegen uns, die wir für Freiheit und Individualität eintreten.

Wenn wir als LGBTIQ*-Gemeinschaft Gesellschaft proaktiv mit gestalten wollen, dann sollten, nein müssen wir lernen, den vielfältigen Perspektiven unserer queeren Schicksalsgemeinschaft mit Neugier, mindestens aber respektvoll zu begegnen, wie Kinder verkleideten Erwachsenen. Nicht mit Argwohn, nicht mit Angst und schon gar nicht mit Besitzstandwahrer-Attitüde oder gar: Ausschluss. Egal ob der physisch oder als Shitstorm daherkommt.  

*Christian Knuth

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