Endlich: Historisches Gedenken im Bundestag

Erstmals legt der Bundestag beim Holocaust-Gedenken den Fokus auf die Verfolgung sexueller Minderheiten durch das NS-Regime. Die letzte NS-Opfergruppe, der wegen der Blockade der CDU/CSU ein solches Gedenken verweigert wurde. Was morgen passiert ...

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Der lange Atem des Paragrafen 175 StGB

Als Tag der Befreiung ist der 8. Mai 1945 in die Geschichtsbücher eingegangen. Für Menschen wie Karl Gorath aber ging die Verfolgung mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus nicht zu Ende. Der von den Nazis verschärfte Paragraf 175 galt von der Bundesrepublik zunächst unverändert fort. Homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen wurden erst 1969 entkriminalisiert. Bis dahin wurden in der Bundesrepublik rund 50.000 Menschen, meist schwule Männer, verurteilt. Für viele Verurteilte war damit gesellschaftliche Ächtung verbunden. 

1934 war Gorath erstmals nach Paragraf 175 verurteilt worden, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte. Es folgten Zuchthaus und KZ. 1946 verurteilte ihn derselbe Richter, der ihn bereits in der Nazi-Diktatur bestraft hatte, zu einer weiteren Haftstrafe. Als Vorbestrafter fand Gorath nur schwer Arbeit und verarmte. Er starb 2003 mit 91 Jahren in Bremerhaven. Über seinen Leidensweg hat Gorath einen Text hinterlassen. Am Freitag wird der Schauspieler Jannik Schümann Goraths Worte im Plenum des Bundestags verlesen. In der Gedenkstunde soll ausdrücklich auch an dieses Unrecht erinnert werden, das den Opfern nach 1945 zugefügt wurde. 

„Wir ziehen in der Gedenkstunde eine Parallele zu dem sogenannten ‚Schwulenparagrafen‘, der erst sehr spät aufgehoben wurde“, sagte die Bundestagspräsidentin. „Bis es Entschädigungszahlungen gab, haben viele schon gar nicht mehr gelebt.“ 

Bas wird die Gedenkstunde am Freitag mit einer Ansprache eröffnen. Die Gedenkrede wird die Holocaust-Überlebende Rozette Kats halten. Weiterer Redner ist Klaus Schirdewahn, der 1964 wegen sexueller Beziehungen zu einem anderen Mann verurteilt worden war. Neben Schürmann wird auch die Schauspielerin Maren Kroymann einen Text überein Opfer vortragen, dessen Lebensgeschichten wie Goraths exemplarisch für die Verfolgung sexueller Minderheiten während des Nationalsozialismus und darüber hinaus in der Bundesrepublik ist.

Erst der Rückzug Wolfgang Schäubles löste die Blockade

Schon seit 2018 lag dem Bundestag eine Petition mit der Forderung nach einer Würdigung für die queeren Opfer des Nationalsozialismus vor - der Begriff "queer" bezeichnet Menschen mit einer Identität jenseits der heterosexuellen Norm. Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) wollte die Anregung nicht aufgreifen, seine Nachfolgerin Bas indes setzte sich dafür ein.

Foto: Friedrich-Naumann-Stiftung

Die Geschichte der queeren NS-Opfer wurde lange in der Forschung, der Aufarbeitung und der Erinnerung missachtet. Sie war allenfalls ein tabubehaftetes Nischenthema. Erst in den vergangenen Jahren hat sich die historische Forschung des Themas angenommen und schwule, lesbische und andere queere Menschen eindeutig als Opfergruppe des nationalsozialistischen Unrechts identifiziert.


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➡️ Schäubles Schuld


 „Mir ist diese Gruppe wichtig, auch weil sie heute immer noch von Diskriminierung und Anfeindung betroffen ist“, sagte Bundestagspräsidenten Bärbel Bas (SPD) in einem Interview der Nachrichtenagentur AFP.  Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, lobte im AFP-Interview die „absolut gute Themensetzung“. 

Breite Zustimmung von Opferverbänden

Die Gedenkstunde für die queeren NS-Opfer sei für sie auch ein „persönliches Anliegen“, sagte Bas. Es solle ein Zeichen gegen die Diskriminierung gesetzt werden – bis in die Gegenwart hinein. Zentralratspräsident Schuster sagte AFP: „Wir müssen uns im Klaren sein: Die Hauptopfergruppe im Nationalsozialismus waren die Juden, aber sie waren nicht die einzige Gruppe.“ Vielleicht werde durch den gewählten Schwerpunkt des Gedenkens „manchen Menschen klarer, dass es eben nicht nur die Juden betroffen hat“, fügte Schuster hinzu. „Es wird deutlich, dass solche Entwicklungen wie zu Zeiten des Nationalsozialismus im Prinzip fast alle Bevölkerungsgruppen betreffen können.“ 

Foto: Gil Cohen-Magen / AFP

Positiv äußerte sich auch der Leiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, Dani Dayan. Er habe „keinerlei Bedenken“ gegen die Schwerpunktsetzung der Gedenkstunde im Bundestag, sagte er AFP.

„Wir respektieren und ehren alle Opfer der Schoah.“

Auch Dayan hob zugleich die Einzigartigkeit des jüdischen Leids während der NS-Zeit hervor.  Bas verwies im AFP-Interview darauf, dass die Verfolgung sexueller Minderheiten mit dem Ende des Nationalsozialismus nicht vorüber war. Vor allem schwule Männer, aber auch lesbische Frauen und Transsexuelle mussten mit strafrechtlicher Verurteilung und gesellschaftlicher Ächtung rechnen. Auch dieses Unrecht soll laut Bas in der Gedenkstunde thematisiert werden. 

Gedenken hilft gegen Antisemitismus 

Der 27. Januar wird in der Bundesrepublik seit 1996 als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus begangen. Das Datum verweist auf die Befreiung der Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch Soldaten der Roten Armee im Jahr 1945. Schuster betonte in dem AFP-Interview, das institutionalisierte Gedenken wie am Freitag im Bundestag sei „jetzt wieder besonders wichtig angesichts des wachsenden Antisemitismus in der Gesellschaft“. Er finde das ritualisierte Gedenken „ganz und gar nicht schlecht“, sagte Schuster:

„Dieses geballte Eingehen auf dieses Thema gerade an festgesetzten Daten ist ganz wichtig. Das wird dann zum Beispiel auch genutzt, um im schulischen Bereich das Thema anzusprechen, und das ist mir das Allerwichtigste.“ 

*AFP/bur-cne/pw

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