Kommentar • Mehr Politik für Heteros? Nein!

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© winfried-kretschmann.de

In den sozialen Medien machen zurzeit Aussagen des grünen Baden-Württemberger Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann die Runde. Er fordere in einem Gastbeitrag in der Wochenzeitung Die Zeit mehr Politik für Heterosexuelle. Das ist zu verkürzt.

Wahrscheinlich in Folge der harschen Netzreaktionen auf einen Meinungsbeitrag im führenden LGBT*I-Magazin queer.de, ist der eigentlich für morgen zur Veröffentlichung vorgesehene Text bereits heute auf der Internetseite der Baden-Württemberger Landesregierung online gegangen. Der Text ist ein Namensbeitrag Winfried Kretschmanns und beschäftigt sich mit der gesellschaftlichen Spaltung. Dies aus der Sicht eines Landesvaters, der das fast Undenkbare geschafft hat: Den Zeitgeist der grünen Bewegung bis an die Spitze eines urkonservativen, katholischen und gleichzeitig industriell erfolgreichen Bundeslandes zu tragen. 

Aus dieser Position heraus stellt sich für Kretschmann die Frage, wie mit grundsätzlichen Werten umzugehen ist, wenn doch diese in weiten Teilen der Bevölkerung längst gelebt werden. 

„Zugespitzt könnte man sagen, dass die Auseinandersetzung darüber, ob unser Land weiter den Weg der Modernisierung geht oder ob es zu einem gesellschaftlichen und politischen Rollback kommt, zwischen den Polen von Grünen und Rechtspopulisten stattfindet – die Bundespräsidentenwahl in Österreich lässt grüßen."

Kretschmann stellt also die Frage, wie er nicht mehr vom Rand her eine Mehrheitsgesellschaft zum Umdenken bringen muss, sondern aus der Mehrheitsgesellschaft heraus eine wachsend unzufriedene Randgruppe erreichen kann. Und hier reagiert er mit einem bewährten Mittel: Aufklärung und Akzeptanz:

„Außerdem müssen wir deutlich machen, dass die neuen Freiheiten in der Lebensgestaltung ein Angebot und keine Vorgabe sind. Hier liegt ein häufiges Missverständnis. Es geht darum, dass jeder nach seiner Fasson leben kann und nicht darum, traditionelle Lebensformen abzuwerten oder die Individualisierung ins Extrem zu treiben. Individualismus darf nicht zum Egoismus werden, sonst wird gesellschaftlicher Zusammenhalt unmöglich. So ist und bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform der meisten Menschen – und das ist auch gut so."

Kretschmann greift hier die Organisatoren der Demo für Alle, die Kubys, Beverfoerdes und Storchs dieser Welt ideologisch an: Niemand will ihnen ihre Ehe wegnehmen. Niemand will sie zwingen, anders zu leben. Niemand wertet die Ehe durch neue Formen des Zusammenlebens ab. Im Gegenteil. Es ist - in den Augen des Katholiken Kretschmanns - auch gut so, dass es viele Menschen gibt, die die klassische Ehe leben. 

Foto: Grüne BaWü auf Flickr/CC BY-SA 2.0

Nein, progressiv Links ist dieser Mann sicher nicht - war er auch nie. Aber ihm aus einer ehrlichen politischen Analyse mit konkreten Handlungsempfehlungen an die eigene Partei einen antiemanzipatorischen Strick drehen zu wollen, geht mir zu weit. Oder wie es Kretschmann formuliert:

„Auf der einen Seite erleben wir eine tendenziell übersteigerte politische Korrektheit, auf der anderen Seite das krasse Gegenteil: einen Verbalradikalismus und eine Verrohung der Sprache."

Es ist gut, dass wir laute Stimmen wie Alfonso Pantisano und Enough is Enough in unseren Reihen haben. Es ist gut, dass ein Volker Beck mit seinen unermüdlichen Spitzen ganze Bevölkerungsgruppen zu nerven scheint. Es ist unerlässlich, dass wir unsere unabhängigen Medien wie queer.de haben. Aber: Im direkten Diskurs werden wir gegen das unappetitliche Lügengebrüll der evangelikaren Hardliner und ihres politischen Armes AfD nicht anschreien können. 

Abrüsten bitte! 

•Christian Knuth

UPDATE 6. OKTOBER 

In einem Facebookeintrag nimmt Winfried Kretschmann Stellung und verteidigt seine Ausführungen anhand politischer Handlungen. Das in den Augen einiger Kommentatoren entstandene Missverständnis bedauert der Grüne Politiker. 

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