Mein Freund Tobi

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Manchmal will man sterben. Aber dann bringt man sich nicht gleich um. Dass Tobi* nicht glücklich war, sahen die meisten und mit 31 Jahren nahm er sich das Leben. Der Selbstmord eines Freundes wirft Fragen auf.

Ich bin nicht der Einzige, der gelegentlich an Suizid denkt. Laut einer vor zwei Jahren veröffentlichten Studie betrifft das Problem sogar eine ganze Generation von nicht-heterosexuellen jungen Erwachsenen. Homo- und bisexuelle Studierende haben ein vier- bis achtfach höheres Risiko für suizidale Gedanken und Verhaltensweisen als heterosexuelle Kommilitonen. Das alles ist uns nicht neu. Doch auf den Schock, der uns trifft, wenn ein Freund oder Bekannter solche Gedanken in die Tat umsetzt, bereitet uns niemand vor.

Als ich erfuhr, dass mein Freund Tobi nun tot ist und ich ihn nie mehr sehen werde, kamen mir erst die obligatorischen Tränen. Wir hatten schon lange keinen richtigen Kontakt mehr. Er war viel unterwegs, und wenn ich ihn traf, war er meist betrunken oder drauf. Ich dachte, es war in der Berlin-Phase: Sich austoben und alles nachholen, was man als junger Schwuler auf dem Land so alles versäumt hat. Doch es steckte wohl mehr dahinter.

Nach dem ersten Schock kamen die Erinnerungen zurück: An einen unglaublich attraktiven Mann, mit dem man gerne gesehen wurde. Dann schlug auch ich die Buschtrommel und informierte alle, die ihn ebenfalls kannten und es noch nicht gehört hatten. Geteiltes Leid ist halbes Leid, oder? Wie hat er sich gefühlt? Hat er sein Leid geteilt? Nur sein engster Kreis wusste von den Geistern seiner Vergangenheit, die ihn verfolgten und die er zu betäuben versuchte.

Minderheitenstress und Schuldgefühle

Interpretationen der genannten Studie variieren, kommen aber im Schluss auf denselben Punkt: Minderheitenstress. Mangelnde Akzeptanz und daraus entstehende Benachteiligungen im Leben. Diskriminierung und fehlende Vorbilder die lehren, dass auch queere Personen ein glückliches Leben führen können. Es sind Erklärungsansätze, die den Betroffenen nicht wirklich weiterhelfen. Und heute geht es auch nicht um die LGBTIQ*-Allgemeinheit und unsere kollektiven Traumata. Es geht um mich und Tobi, dessen Tod mich an vielen Stellen erwischt hat. Meine eigene Geschichte etwa, in der ich erlernt habe zu resignieren, weil die Welt anders ist als ich es bin und mich nie so mögen wird, wie sie andere Arten von Männern mag. Oder das Erleben einer schwulen Szene, die von Körperkult, Schwanzgrößenwahn und Exzess getrieben ist und der ich nie genug sein werde. Dann diese Normalität des Unwohlseins, die so gar nicht zum Rest dieser bunten Spaßgesellschaft passen will. An all das hat mich sein Selbstmord auch erinnert. Viel mehr aber hat mich meine eigene Gleichgültigkeit erschreckt. Ich wusste doch, dass er im Begriff war, abzustürzen. Als er immer öfters mittags beim Motzki schon sein Bier trank. Oder als ich ihn zufällig montagmorgens bei Grindr sah und er immer noch nach Chemsex suchte. Was hätte es mich gekostet, ihn anzuschreiben oder mich zu ihm zu setzen, eine Voll-Fett-Cola zu kaufen und zu fragen, was los ist mit ihm?

Mein böser Engel flüstert mir ins Ohr: Du hättest doch eh nichts tun können. Mein guter Engel hat Schuldgefühle. Und ich weiß nicht mal genau, welcher von beiden gut und welcher böse ist.

Eure Liebe kann mich mal

Die Trauerfeier war durchwachsen. Ergreifende Worte, melancholische Blicke, guter Wein und furchtbare Karaoke. „Tobi hätte gewollt, dass wir das Leben feiern“, sagte einer der Redner. Hätte er das gewollt, wäre er wohl noch am Leben, dachte ich. Wer war dieser Tobi überhaupt, der will, dass die Hinterbliebenen das Leben feiern und der doch achtlos seinen Partner und seine Freunde im Stich lässt. Der mit seinem Suizid sagt: Schaut her! Egal wie ihr euch bemüht, ich will einfach nicht mehr leben! Eure Liebe kann mich mal! Was seine Engel wohl durchmachen mussten bis zu dem Tag, an dem er selbst einer wurde? Haben sie geschrien oder eher geflüstert?

Ich kann mir vorstellen, dass er mit seinem Leid niemandem mehr zur Last fallen wollte. Dass er es selbst nicht verstehen konnte, warum einer wie er so schlecht mit dem Leben zurechtkam. Viellicht war er einfach müde, auch davon, sich für seine negativen Gefühle und Gedanken zu schämen. Es war natürlich sein gutes Recht, selbst zu entscheiden, wann er gehen will. Aber hat er es wirklich durchdacht? Konnte er wirklich nicht sehen, welche anderen Möglichkeiten es für ihn gab? Oder haben wir es alle einfach nicht hören wollen? Kopf hoch, Tobi. Das wird schon, Tobi. Lach’ mal, Tobi.

Es ist leider so im Leben: Der Welt musst du etwas vorspielen, sonst verstößt sie dich. Dass man in so einer Welt nicht leben will, ist verständlich. Es gibt aber andere Wege, als sie gleich komplett zu verlassen.

Hätte ich mich doch zu dir gesetzt

Man kann zum Therapeuten gehen und sich ein Umfeld aufbauen, dass einen so liebt, wie man ist. Oder man kann dieser Welt den Kampf erklären und sie so lange verändern, bis sie besser zu einem passt. Gleichgültigkeit an sich ist auch keine schlechte Sache, aber sie darf nicht zum Selbstzweck werden. Sie muss dabei helfen, das Schädliche und Schlechte rauszufiltern, um genug Kraft zu behalten, um das Nützliche und Gute weiterhin wahrnehmen zu können. Doch hätten ihm diese Gedanken helfen können?

Ich spiele die Situation in meinem Kopf erneut durch. Tobi auf der Bank beim Motzki. Ich auf dem Weg irgendwohin. Anstelle freundlich zu grüßen und weiterzugehen, halte ich an und setze mich zu ihm. Wenn er mir dann ehrlich auf die Frage, was nicht in Ordnung sei, mit „ich will nicht mehr leben“ geantwortet hätte, hätte ich nicht gewusst, was ich sagen soll. Und genau das hätte ich dann sagen sollen. Das und dass ich solange mit ihm sitzen werde, ohne zu wissen, was ich sagen soll, bis er wieder leben will. 

*Name von der Redaktion geändert.

Seelsorge und Soforthilfe

In Deutschland gibt es 105 Telefonseelsorge-Stellen, getragen von der evangelischen und katholischen Kirche. Die Anrufe unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222 sind kostenfrei.

Auch per Mail und Chat unter online.telefonseelsorge.de zu erreichen.

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