Gastkommentar • Warum uns die aktuelle Homophobiedebatte gar nicht gut tut

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Die jüngsten Äußerungen von Winfried Kretschmann und vor allem von Boris Palmer haben in Teilen der queer Community einen lauten Aufschrei hervorgerufen: man/frau meint homophobe Töne zu hören oder sogar eine Anbiederung an AFD Wähler und das von grünen Spitzenpolitikern! Während Kretschmann diplomatisch zurückgerudert ist und von „missverständlichen“ Äußerungen sprach, bleibt Palmer bei seiner Meinung, was zu einer nun schon ordentlich angewachsenen Reihe von offenen Briefen, Gegenbriefen, Stellungnahmen und Gegenstellungnahmen, zum Beispiel vom LSVD und den queeren Grünen und natürlich hunderten von Kommentaren auf Facebook & Co geführt hat.

Foto: Grüne BaWü auf Flickr/CC BY-SA 2.0

Auch ich befand mich, als die erste Meldung über angeblich homophobe Äußerungen von Kretschmann bei queer.de erschien, zunächst und ganz reflexhaft unter den Kretschmann Kritikern. Ich gesellte mich sogleich unter die „Homophobie“ anprangernden Kommentarschreiber – bis ich den Originaltext von Kretschmann las. In dem entdeckte ich nämlich gar nichts Homophobes, sondern lediglich ein paar, wie ich finde, sehr harmlose Tatsachenfeststellungen und die vielleicht für Queers etwas provokantere Äußerung, dass es auch gut so sei, wenn die Mehrheit heterosexuelle Lebensgemeinschaften wolle. Auch mit diesem Satz habe ich persönlich allerdings keinerlei Probleme, da es aus einer gesellschaftlichen Gesamtperspektive heraus unverkennbar sinnvoll ist, dass es mehr heterosexuelle Lebensgemeinschaften gibt, aus denen Kinder hervorgehen können, weil es allein auf der Basis homosexueller Lebensgemeinschaften sonst doch etwas eng mit dem Nachwuchs würde – auch dem schwulen und lesbischen.

Wenn man sich die Mühe macht, alle aktuellen Äußerungen von Boris Palmer zu dem Thema zu lesen, kann man zu einem sehr ähnlichen Befund kommen: es gibt dort eine Reihe von schlichten Tatsachenfeststellungen und ein paar, wie ich finde, eher harmlose Wertungen, wie z.B. dass den vielen heterosexuellen Eltern auch Respekt gebühre. Ja natürlich; Kinder groß zu ziehen, ist eine extrem fordernde und anspruchsvolle Lebensaufgabe, vor allem, wenn man sie langfristig ernst nimmt, und das tun doch wohl die meisten Eltern. Das verdient Respekt. Natürlich genauso gegenüber Regenbogenfamilien, aber eben auch bei unseren viel zahlreicheren heterosexuellen Brüdern und Schwestern.

Die Homophobie im Auge des Betrachters

Wo also ist hier eine Abwertung oder gar Homophobie? Mein Eindruck ist, genau dort, wo sie vom Leser hinein interpretiert wird – und auch nur dort. Daraus sind nun allerdings äußerst heftige Auseinandersetzungen und Attacken entstanden. Ich glaube, dass uns Queers diese Art der Diskussion gar nicht gut tut:

1. Wir dürfen in unserer queeren Identität absolut selbstbewusst sein und auch auftreten. Und natürlich gehört der Anspruch auf Gleichbehandlung dazu – auch was Ehe oder Adoptionsrecht angeht. Dazu gehört aber genauso auch, ein wenig souverän auf Leute zu reagieren, die die Dinge etwas anders sehen und empfinden, ohne damit gleich „homophob“ zu sein.

2. Es gibt tatsächlich jede Menge auch übelste und gewalttätige Homophobie in unserer Welt – und auch immer noch in Deutschland. Es ist absolut wichtig – nicht nur für uns, sondern im Sinne von Menschenwürde und Respekt, immer wieder darauf aufmerksam zu machen und alles zu tun, dass homophobes Denken und Handeln abgebaut wird. Ich finde, dass hierfür auch die Artikel von queer.de, auch wenn ich im aktuellen Zusammenhang die „Berichterstattung“ sehr unausgewogen und kontraproduktiv finde, grundsätzlich einen extrem wichtigen Beitrag leisten.

Foto: Privat

3. In der Welt in der wir leben, macht sich aktuell in vielerlei politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht wieder eine starke und gefährliche Polarisierung breit. Die sollten wir nicht dadurch fördern, dass wir jeden, der nicht zu 100% auf unserer Linie ist, als Feind betrachten und attackieren. Das ist Wasser auf die Mühlen der tatsächlich Homophoben, und wir verscherzen uns damit erhebliche Sympathien im nicht-queeren Teil der Bevölkerung. Ich wäre daher stark dafür, dass wir uns wieder mit echten Themen und Problemen beschäftigen statt irgendwelche zu konstruieren.

Stefan Hölscher (Dr. phil., Dipl. Psych., M.A.), arbeitet als Managementberater, Trainer, Coach und Autor. Als Autor schreibt er sowohl Bücher zu Psychologie und Management wie auch Lyrik und Aphorismen. Stefan Hölscher bei Amazon

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