„Da muss Deutschland sich öffnen!“

by

Foto: privat

Dr. med. Philipp de Leuw ist Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie an der Uniklinik Frankfurt und kümmert sich schwerpunktmäßig um die HIV-Sprechstunde im Haus 68, der Infektiologie und dem im HIV-Center der Uniklinik. Er ist unter anderem Prüfarzt zahlreicher Zulassungsstudien für HIV-Medikamente, leitet Fortbildungen für Mediziner zum Thema HIV und Aids und gehört außerdem zum Ärzteteam, das den Maintest im Switchboard betreut. Ein Gespräch über zukünftige Möglichkeiten, HIV noch besser in den Griff zu bekommen.

Herr de Leuw, wie stellt sich die Situation der HIV-Neuinfektionen zurzeit dar?

Wenn man sich die aktuellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts anschaut, sind die Neuinfektionen im Vergleich zu 2016 zurückgegangen. Allerdings nur in den Großstädten – und das hat maßgeblich damit zu tun, dass es dort vermehrt anonyme Testangebote, die Anbindung an Spezialpraxen und generell ein niedrigschwelliges, also leicht zu erreichendes und vor allem vorurteilsfreies Angebot gibt.

Nach wie vor gibt es aber 30 Prozent der sogenannten Late-Presenter, also Leute, die bei der Erstdiagnose einen erheblichen Immundefekt, also eine Helferzellenzahl unter 350, haben, was zu Komplikationen in der Therapie führen kann.

Sind das eher junge Menschen?

Es gibt Late-Presenter in der Altersklasse zwischen 20 und 30, die sehen wir hier leider auch häufig in der Klinik, aber es sind vor allen auch viele in der Altersklasse zwischen 35 bis 45. Zu diesen 30 Prozent Late-Presentern kommen nochmal die 19 Prozent, die überhaupt nicht diagnostiziert sind. Und das ist nach wie vor auch ein großes Problem in ländlichen Gebieten, wo man Menschen schwieriger erreichen kann. Da muss man sich überlegen, wie man Lösungen schaffen kann.

Wie könnte das aussehen?

Was ich für ländliche Gebiete sehr interessant finde, ist zum Beispiel die Entwicklung einer App-Plattform, wo man sich professionelle Informationen zu Geschlechtskrankheiten holen kann, sein Risikoverhalten einschätzen lassen kann, erfährt, wie man sich schützen kann und wo man sich testen lassen kann. Dabei geht es nicht darum, den Leuten vorzuschreiben, wie sie Sex haben sollen, sondern darum, zu informieren, zu zeigen, welche Optionen man hat und welche Probleme entstehen können. Idealerweise müsste man das mit einer Dating-Plattform verknüpfen. So erreicht man die Menschen! Das ist ein probates Modell, das sehr gut funktioniert.

Sind HIV-Selbsttest für zu Hause auch ein probates Modell?

Ich denke, man muss sich Dingen öffnen, um zu schauen, wie der Stellenwert ist, aber immer vorsichtig. Der Heimtest ist nur interessant, wenn man vernünftige Informationen zu HIV mitanbietet und man dem Menschen im Anschluss auch unmittelbar zur Seite stehen kann, was im ländlichen Raum so nicht gegeben ist. Das Gesamtpaket muss stimmen. Kompliziert sind die rechtlichen Rahmenbedingungen in Deutschland: Das deutsche Medizinproduktgesetz besagt, dass Laboruntersuchungen nicht von Laien selbst durchgeführt werden dürfen. Es müsste also zuerst das Medizinproduktgesetz geändert werden.

Gibt es weitere Modelle, an denen man sich orientieren kann?

Generelle Vorbildfunktion in Europa hat London mit der „56 Dean Street“, eine vom Gesundheitssystem getragene Einrichtung mit einer sogenannten „walk-in-clinic“. Hier kann man sich testen und behandeln lassen, man bekommt Informationen und ausführliche Beratung, kombiniert mit einem umfangreichen Internet-Angebot, ganz niedrigschwellig, aber ganzheitlich. Hier kann man sich zum Beispiel auch HIV-Heimtests bestellen, die in England inzwischen legal sind. London hat eigentlich das perfekte Setting, und wenn man die Infektionsraten in London vergleicht, wurden im Oktober 2015 noch 60 Menschen neu mit HIV diagnostiziert, zwei Jahre später nur noch vier. Das ist ein signifikanter Rückgang! Natürlich fallen da noch andere Maßnahmen wie die Einführung der PrEP mit rein, aber ich denke, die Zahlen sprechen für sich. Und man muss sich in Deutschland öffnen, für alternative Möglichkeiten, eine Kombination von Angeboten, sich breit aufstellen, Angebote ausbauen und am besten alles unter einer Adresse oder einem Ansprechpartner anbieten. In Deutschland die Strukturen dafür zu schaffen ist nicht einfach. Aber es gibt Bestrebungen in den entsprechenden Gremien.

www.hivcenter.de

Back to topbutton