ZWISCHEN DEN ZEILEN

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Ein mintgrünes Kleid mit schon zahlreichen Farbtupfern legt uns der Frühling in diesen Tagen leicht um Schultern und Taille.

Der Blick an uns herab lässt jedoch sofort erkennen, dass die Leibesmitte noch nicht die notwendigen Badestrandmaße erreicht hat.

Der daraufhin panisch gefasste Entschluss, den ganzen April hindurch gleich mehrmals täglich strapaziöseste Sporteinheiten zu absolvieren und ebenso lange gänzlich auf Nahrung aller Art zu verzichten, verpufft aber leider mangels Willenskraft binnen 24 Stunden.

Auf der Suche nach praktikablen Lösungen stößt man schnell auf die 16:8-Diät, auch Intervallfasten genannt: Dabei darf man innerhalb von acht zusammenhängenden Stunden des Tages essen und dann 16 Stunden nicht.

Nach meiner Interpretation handelt es sich hierbei um eine sehr ursprüngliche und somit natürliche Ernährungsweise. Denn schon unsere zotteligen Ur-Ahnen mussten wohl 16 Stunden lang mit knurrendem Magen einem leckeren Wollnashorn hinterherjagen, um sich dann acht Stunden daran zu verköstigen

Foto: flickr Nutzer Biodiversity Heritage Library/CC BY 2.0

Wobei ich mir unlängst sagen lassen musste, dass es bei der heutigen 16:8-Diät nicht gilt, acht Stunden lang Schweinshaxe und Schokolade zu verzehren.

Vielmehr ist leider wie so oft im Leben der schonend gedünstete Brokkoli das Mittel der Wahl.

„Nachseptemeber“

Zwei Jahrestage, die für die rechtliche Situation von schwulen Männern Bedeutung haben, stehen in diesem Jahr an. Einen davon haben wir am 10. März bereits hinter uns gebracht. Nun ist es 25 Jahre her, dass der Schwulenverfolgungs-Paragraf 175 vollständig aus dem deutschen Strafgesetzbuch gestrichen wurde.

„Das ist heute doch ein historischer Tag, denn endlich kommen wir heute dazu, den Paragraph 175 Strafgesetzbuch abzuschaffen. Ab jetzt gibt es nicht nur mehr Freiraum für homosexuelle Handlungen. Der Staat macht auch deutlich, dass ihm gewaltfreie und einverständliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und fast Erwachsenen nichts angehen“, sagte die damalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in ihrer Bundestagsrede.

Die Wende hatte weitere 25 Jahre davor die Aufhebung des Totalverbots von Homosexualität am 1. September 1969 gebracht. Der Beginn einer Zeitspanne, die in der schwulen Geschichtsschreibung „Nachseptember“ genannt wird und bis zum Beginn der heutigen Schwulenbewegung Anfang der 1970er Jahre andauerte.

Sex mit Unter-21-Jährigen, schwule Sexarbeit und die Ausnutzung eines Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnisses stand aber weiterhin unter Strafe. Mit der Gesetzesreform sank die Zahl der verurteilten homosexuellen Männer jedoch deutlich von mehreren Tausend auf wenige Hundert im Jahr.

In den beinahe 100 Jahren, die der Paragraf 175 in unterschiedlichen Fassungen zuvor Bestand gehabt, hatte wurden etwa 140.000 Männer verurteilt.

Seit 1872 war die „die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts […] begangen wird“ im Reichsgesetzbuch mit Gefängnisstrafe und dem möglichen Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte belegt.

Fast 10.000 schwule Männer wurden nach diesem Gesetz verurteilt, bis 1918 die wilhelminische Moral nach dem ersten Weltkrieg zusammenbrach.

Einer Phase größerer Freiheiten in der Weimarer Republik folgte dann jedoch die deutlich verschärfte Fassung des Paragraf 175 und die rigide Verfolgung durch die Nationalsozialisten.

Krankes Volksempfinden

Dass nach dem zweiten Weltkrieg auch die neu gegründete Bundesrepublik nicht nur an der Verfolgung Homosexueller festhielt, sondern dazu auch über zwei Jahrzehnte die unveränderte Nazi-Version des „175er“ gebrauchte, zeigt, wie tief verwurzelt Homosexuellenfeindlichkeit auch im demokratischen Deutschland war.

Demgemäß wies auch das Bundesverfassungsgericht Beschwerden gegen die Schwulenverfolgung mit folgender Erklärung zurück:

„Der Paragraph ist formell ordnungsgemäß erlassen worden und nicht in dem Maße nationalsozialistisch geprägtes Recht, dass ihm in einem freiheitlich demokratischen Staate die Geltung versagt werden muss. Als zu schützendes Rechtsgut gelten die sittlichen Anschauungen des Volkes, die sich maßgeblich aus den Lehren der beiden großen Konfessionen speisen."

Eine Formulierung, die uns hellhörig machen muss. Denn wenn es in diesen Tagen um die Gleichberechtigung von Frauen, die Emanzipation von sexuellen und geschlechtlichen Minderheiten oder die Einhaltung rechtstaatlicher, demokratischer Standards geht, dann hängt vielen Zeitgenoss*innen ganz plötzlich wieder die hässliche Floskel vom „gesunden Volksempfinden“ aus den Lefzen, dem im Zweifel alles unterzuordnen sei.

Für welche Menschengruppen dieses „Empfinden“ auch in einer Demokratie ungesund wird, können wir aus der Verfolgungsgeschichte ablesen, unter die gerade erst vor 25 Jahren ein Schlussstrich gezogen wurde.

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