Afghanistan: „Ich möchte nicht, dass sie mich töten, so wie sie meinen Freund getötet haben.“

by

Nach dem Zusammenbruch der afghanischen Regierung und der Einnahme von Kabul am 16. August 2021 sind die Taliban wieder die alleinigen Machthaber in Afghanistan. Am 31. August haben die US-amerikanischen Truppen Kabul verlassen, damit ist auch die Luftbrücke vorerst eingestellt. Mit dem Abzug beginnen sich viele Afghan*innen die Frage zu stellen: Wie werden wir in diesem neuen Land leben? Droht uns nach der Rückkehr der Taliban eine neue islamistische Schreckensherrschaft?

Wie die Taliban auf den internationalen Druck zur Wahrung der Menschenrechte reagieren werden, bleibt abzuwarten. Doch die ersten Anzeichen sind wenig ermutigend. Die Taliban mögen vielleicht ihre Haltung gegenüber Frauen geändert haben. So sollen Mädchenschulen offen bleiben, vielleicht steht Frauen sogar die Universität weiterhin offen. Auch von der Arbeitswelt sollen Frauen nicht mehr komplett ausgeschlossen werden. Das zumindest wurden Taliban-Führer in den letzten Wochen nicht müde zu betonen. Über die LGBTIQ*-Community haben sie nichts gesagt. Aus der Queercommunity wagt niemand auch nur zu hoffen, dass die Taliban von heute nichts mehr mit der islamistischen Schreckensherrschaft der 1990er Jahre gemein haben.

Angst und Schrecken in der Community

Es war nie einfach, in Afghanistan schwul, lesbisch oder trans* zu sein. Doch seit der Übernahme der Taliban häufen sich Berichte, dass Queers immer stärker ins Visier der Taliban geraten und LGBTIQ*-Afghan*innen regelrecht gejagt werden. Die Taliban gehen von Tür zu Tür und suchen gezielt nach Journalist*innen, Dolmetscher*innen und LGBTIQ*-Personen. Den Menschen drohen Folter und Hinrichtung – so will es die Scharia, die von den Taliban praktizierte strenge Auslegung des islamischen Rechts (wir berichteten).

Ein Reporter der BILD-Zeitung, Paul Ronzheimer, traf im Juli 2021 in Afghanistan einen Taliban-Richter, der ihm ausführlich erklärte, dass Menschen, die homosexuell sind oder beim schwulen Sex erwischt werden, hingerichtet werden.

„Für Schwule gibt es nur zwei Strafen: Entweder Steinigung oder er muss hinter einer Mauer stehen, die auf ihn fällt.“

Ein britischer Journalist sprach in den letzten Woche mehrmals mit einem jungen Afghanen, dessen Freund in die Hände der Taliban gefallen und ermordet worden war. Die Berichte des jungen Mannes, die zuerst auf i news veröffentlicht wurden, sind grauenerregend. Er erzählt, dass die Taliban den Körper seines Freundes in Stücke hackten, um zu zeigen, was sie jedem antun würden, der sich in Afghanistan offen als LGBTIQ* identifiziert.

Beunruhigend sind auch die Berichte von Artemis Akbary, einem afghanischen LGBTIQ*-Aktivisten, der in der Türkei lebt. Akbary sagte gegenüber Towleroad, dass die Taliban bereits dazu übergegangen seien, Fake-Profile in den sozialen Medien zu nutzen:

„Sie erstellen ein Profilkonto und täuschen LGBT+-Personen, indem sie vorgeben, ein Mitglied der Community zu sein.“

Der afghanisch-amerikanische Journalist und Menschenrechtsaktivist Nemat Sadat verwies auf die besondere Gefahrenlage für die trans* Community. „Sie können auffälliger sein, deshalb versuchen sie, sehr diskret zu sein“, erklärte Sadat gegenüber Inews. Die Verzweiflung ist groß. Vor allem jene Leute, die erst vor kurzem mit der Transition begonnen haben, würden überhaupt nicht wissen, was sie jetzt tun sollen, so Sadat.

Die Welt schweigt

All diese Berichte wurden nicht erst veröffentlicht, nachdem die NATO-Truppen das Land verlassen haben. Wir wissen aus unzähligen offiziellen Berichten, dass LGBTIQ*-Afghan*innen extremer Verfolgung und schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein werden. Doch einzig und allein Kanada hat queere Afghan*innen in ihr Evakuierungs- und Visaprogramm eingeschlossen.

Die USA haben jegliche Aussage über ein erhöhtes Risiko vermieden, obwohl 60 Kongressabgeordnete darauf hingewiesen hatten, dass LGBTIQ*-Afghan*innen unter der Herrschaft der Taliban einer „existentiellen Bedrohung“ ausgesetzt sind. In einem offenen Brief vom 24. August 2021 forderten sie Außenminister Anthony Blinken dazu auf, queeren Afghan*innen einen erleichterten Zugang zum US-amerikanischen Flüchtlingsaufnahmeprogramm U.S. Refugee Admissions Program (USRAP) zu gewähren. 

Großbritannien hatte angekündigt, bis zu 5.000 Afghan*innen (vorrangig Frauen, Mädchen sowie religiöse und andere Minderheiten) im Rahmen eines Umsiedlungsprogramms aufzunehmen. LGBTIQ*s wurden nicht erwähnt, eine Bitte der Thomson Reuters Foundation um Stellungnahme blieb unbeantwortet.

Auch in Deutschland haben die Rosa Strippe, der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) und die Schwulenberatung Berlin noch vor Beendigung der Evakuierungsflüge einen dringenden Appell an die Bundesregierung gerichtet:

„Außenminister Maas hat angekündigt, so viele schutzbedürftige Menschen wie möglich aus Afghanistan zu evakuieren. Zu dieser Gruppe müssen Lesben, Schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen gehören. Uns erreichen verzweifelte Hilfegesuche.“

LGBTIQ*-Notfallfonds

Solange sich Regierungen einen Deut darum scheren und den Taliban mit ihrem Schweigen signalisieren, sie könnten getrost mit dem Terror fortzufahren, sind die Betroffenen in Afghanistan umso stärker auf die Hilfe ziviler Organisationen angewiesen. Nothilfe leistet zum Beispiel Rainbow Railroad, eine in Kanada und den USA ansässige Organisation, die LGBTIQ*-Flüchtlinge auf der ganzen Welt unterstützt. Dem Fernsehsender CBC Toronto erklärte Kimahli Powell, Geschäftsführer von Rainbow Railroad, wie die gemeinnützige Organisation queeren Afghan*innen hilft, die versuchen zu fliehen.

Um die Organisation in ihrer Arbeit zu unterstützen, hat die britische Wohltätigkeitsorganisation GiveOut einen LGBTIQ*-Notfallfonds eingerichtet. Jeder Cent hilft.

Infos unter: https://www.totalgiving.co.uk/mypage/afghanistan-appeal/donate

Back to topbutton