Armenien: Wenn Homophobie übermächtig wird

Eine unumkehrbare Entscheidung zweier Jugendlicher als Folge von totaler Aussichtslosigkeit schockiert Menschen auf der ganzen Welt.

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Ungerechtigkeit und daraus hervorgehende Gewalt gegenüber LGBTIQ* ist in Armenien nichts Seltenes, um so plastischer werden ihre Auswirkungen durch den über soziale Medien öffentlich vollzogenen Akt der Verzweiflung vor Augen geführt. 


-> Im folgenden Text wird über Suizid berichtet. Wer mit diesem Thema lieber nicht konfrontiert werden will oder kann, sollte nicht weiterlesen. Wenn Du selbst Suizidgedanken hast, in einer schweren emotionalen oder psychischen Krise steckst, steht Dir die Krisenhilfe der Telefonseelsorge unter den kostenfreien Nummern 0800 1110111 und 0800 1110222 jederzeit zur Verfügung. 


Die Lage für LGBTIQ* in Armenien

Die Rechtslage für sexuelle und geschlechtliche Minderheiten in Armenien lässt, was Gleichberechtigung, Schutz und Sichtbarkeit angeht, bis dato noch zu wünschen übrig. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist hier noch nicht erlaubt, es gibt keine Antidiskriminierungsgesetze und die Akzeptanz der Bevölkerung ist mangelhaft bis hin zu nicht existent.

Laut Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) :

"The criminal code does not recognize homophobia and transphobia as aggravating criminal circumstances in hate crimes.".

Demnach werden Angriffe auf LGBTIQ*-Personen nicht als solche strafrechtlich geahndet. Die Tatsache, dass die homosexuelle Orientierung im Volksmund Armeniens abgewertet wird, löst bei vielen queeren Menschen Angst aus. Viele melden einen Übergriff lieber nicht an die Behörden, da hier die Offenlegung der eigenen sexuellen Orientierung droht, der vermeintliche Schutz durch Verheimlichung oder sogar Unterdrückung der sexuellen Orientierung auf dem Spiel steht. Für die nur sehr kleine queere Gemeinschaft Armeniens ist Anonymität oftmals die wertvollste Währung im Kampf um einen Platz in der Gesellschaft. 

Gewaltsame Übergriffe: Keine Seltenheit

Foto: rayyyyyennnnn / Instagram

Bereits im August 2018 kam es im Süden Armeniens zu einer gewaltsamen Verfolgung queerer Menschen. HRW berichtet von dem Vorfall, um zu zeigen, dass die reale und kontinuierliche Gewalt gegenüber dieser Minderheit noch in vielen Ländern gang und gäbe ist.

Am Abend des 3. August 2018 wurde LGBTIQ*-Aktivist Hayk Hakobyan mit gleichgesinnten Gästen in seinem Zuhause in dem kleinen Dorf Shurnoukh bedroht. Eine Gruppe aus knapp 30 wütenden Menschen bedrohte die Hausgäste zuerst verbal, bis sich ein Angreifer über den Zaun kletternd Zutritt zum Anwesen verschaffte. Trotz der Flucht aus dem Haus wurden die Gäste auf den Straßen von der Gruppe eingeholt, getreten, geschlagen und mit Steinen beworfen. Nachdem die Polizei knapp zwei Stunden später erst eintraf, nahmen diese die Aussagen der zahlreich Verletzten auf, doch auch nach Verhören der Angreifer wurden keinerlei Strafen verhangen. Laut Hakobyan wurde er schon des Öfteren aus Gründen der sexuellen Orientierung und politischen Überzeugung verfolgt, die ziellose und Konsequenzen meidende Arbeit der Polizei sei dabei keine Neuheit.

Die Polizei und damit die Regierung des Landes weigert sich schon seit geraumer Zeit gegen die Implementierung eines Antidiskriminierungsgesetzes auf der Basis der geschlechtlichen Identität oder Sexualität. Damit sinkt sowohl die Durchsetzungskraft, als auch der Wille der Polizei, sich sichtlich und effektiv gegen solche Attacken zu stellen. 

Ein Hilfeschrei

Foto: rayyyyyennnnn / Instagram

Am 20. Oktober verlor Armenien zwei  Seelen an dieses System aus Homohobie, Unsichtbarkeit, Versteckspiel ... Arsen und Tigran verabschiedeten sich mit gemeinsamen Bildern auf Instagram von der Welt und stürzten sich von einer Brücke in der Hauptstadt Jerewan 92 Meter in den Tod. Die Bilder, die sie davor auf Instagram posteten, zeigen das sich liebende Paar küssend und Hände haltend mit Partnerringen. Die Bildunterschrift des Postings lautet:

„Happy End. Entscheidungen, Fotos zu teilen und all unsere gemeinsamen Aktionen wurden von uns beiden getroffen"

Foto: rayyyyyennnnn / Instagram

Die LGBTIQ*-Organisation Pink Armenia äußert sich zu den Geschehnissen:

„Die jungen Männer hatten noch viele Lebensjahre vor sich, aber aus der Intoleranz ihnen gegenüber unternahmen sie einen so tragischen Schritt. Dieser tragische Fall beweist einmal mehr, dass LGBT-Menschen in Armenien nicht sicher sind und weder von der Gesellschaft noch vom Staat geschützt werden"

Einen solch dramatischen Schritt zu gehen, hat nicht nur mentale Gründe, sondern wird oft von der Umgebung bestimmt. Pink Armenia weiter:

„Suizidgedanken werden oft von Schuldgefühlen, Angst, Selbstvorwürfen und Scham aufgrund gesellschaftlicher Einstellungen zur eigenen sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität begleitet."

Die schockierende Reaktion der Außenwelt

Nachdem das Posting der beiden Männer viral ging, kam die traurige Wahrheit ans Licht. Die Kommentare unter den Bildern waren ebenso liebevoll und anteilnehmend, als auch von Hass und Intoleranz erfüllt. Unter anderem wird positiv darüber gesprochen, dass die jungen Männer tot sind, und teilweise anderen geraten, dasselbe zu tun.

Die Mutter einer der beiden Jungen soll auf dem Posting negativ kommentiert haben. Der Kommentar „Es wäre besser, du würdest sterben" soll nach medialer Empörung wieder gelöscht worden sein. Wenn sogar die eigene Mutter einen solchen Hass gegenüber dem eigenen Sohn hat, dann dürfte es nicht verwunderlich sein, warum zahlreiche LGBTIQ-Personen das Land verlassen, um offen leben zu können. 

Suizidgefahr bei jugendlichen Angehörigen einer sexuellen Minderheit erhöht

In den vergangenen Jahren deuteten einzelne Studien mit unterschiedlichen Teilnehmerzahlen, Fragestellungen und Zielgruppen immer wieder eine vermutlich höhere Gefahr für Selbsttötung unter Homosexuellen, Bisexuellen, Trans* und Intersexuellen an. Erstmals hat ein Forscherteam diese Ende 2018 in einer sogenannten Metastudie überprüft und ausgewertet. Die Ergebnisse wurden  im JAMA Network der amerikanischen Ärztekammer veröffentlicht. 

Insgesamt konnten die Forscher auf eine Datenbasis von fast 2,5 Millionen Jugendlichen zurückgreifen und so feststellen, dass das Risiko für lebensbedrohliche Verhaltensweisen unter jungen Queers insgesamt deutlich höher ist, als bei ihren heterosexuellen Altersgenossen. Am stärksten betroffen sind Transgender-Jugendliche (5,87 mal erhöhtes Risiko), gefolgt von bisexuellen (4,87 mal erhöht) und homosexuellen Jugendlichen (3,71 mal erhöht). Insgesamt ist Suizid die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen. 

➡️ Was Fachleute aus dieser Tatsache folgern und fordern: zum Artikel HIER klicken

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