Schwarzer Tag für Menschenrechte in Moskau: Organisation verboten

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Foto: Natalia Kolesnikova / AFP

Das Oberste Gericht Russlands hat die Auflösung der bedeutendsten Menschenrechtsorganisation des Landes, Memorial International, angeordnet. Das Verbot wurde wegen angeblicher Verstöße gegen das sogenannte Ausländische-Agenten-Gesetz verhängt.

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Originalartikel vom 27. Dezember 2021

Russlands älteste Menschenrechtsorganisation MEMORIAL vor Verbot?

Ein Moskauer Gericht verhandelt über die Anträge russischer Justizbehörden, sowohl die Internationale Gesellschaft MEMORIAL als auch das Menschenrechtszentrum MEMORIAL aufzulösen. Russische Behörden werfen der Organisation vor, grob und anhaltend gegen die Vorschriften des „Agentengesetzes“ verstoßen und Veröffentlichungen nicht gekennzeichnet zu haben. Menschenrechtler*innen in Russland befürchten ein Verbot der Organisation, die auch enge Verbindungen zu Wissenschaftler*innen in Deutschland pflegt.

Russische Behörden haben der Organisation vorgeworfen, grob und anhaltend gegen die Vorschriften des „Agentengesetzes“ verstoßen und Veröffentlichungen nicht gekennzeichnet zu haben sowie  „Extremismus“ und „Terrorismus“ Vorschub zu leisten. Am 23. Dezember eröffnete Richter Michail Kasakow die Anhörung zum möglichen Verbot der Organisation MEMORIAL International und des Menschenrechtszentrums MEMORIAL unter Ausschluss der Öffentlichkeit – zur „Sicherheit“ der Prozessteilnehmer, wie Kasakow erklärte.

„Das ist keine juristische, sondern eine politische Entscheidung von ganz oben“, sagte Irina Scherbakowa von MEMORIAL International in einem Podcast. Mit der Anklage gegen MEMORIAL soll der Druck auf Kritiker*innen von Präsident Wladimir Putin erhöht werden. Im Podcast erläuterte Scherbakowa auch, was eine Schließung für die Menschenrechte in Russland bedeuten würde und weshalb der Prozess vor allem auch ein Zeichen an den Westen ist. 

MEMORIAL International mit Sitz in Moskau wurde 1988 von sowjetischen Dissidenten, darunter dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow, gegründet und besteht aus über 80 Organisationen in Russland, anderen postsowjetischen Staaten und dem weiteren Ausland. Auch in Deutschland hat Memorial seit 1993 einen Zweig. Die Organisation widmet sich der Aufarbeitung der politischen Verfolgung und des stalinistischen Terrors in der Sowjetunion ein und gilt als wichtiges Symbol der Demokratisierung Russlands nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. In Moskau betreibt sie ein umfassendes Archiv mit Zeitzeugen-Interviews und Dokumenten zum Stalinismus. Daneben macht MEMORIAL auf die Wahrung der Menschen- und Bürgerrechte im heutigen Russland aufmerksam und setzt sich für politische Gefangene und Minderheiten wie Migrant*innen und Homosexuelle ein.

Verstöße gegen das „Ausländische-Agenten-Gesetz“

Wie zahlreiche andere Nichtregierungsorganisationen wurde auch MEMORIAL als „ausländischer Agent“ eingestuft. Diese Organisationen müssen sämtliche ihrer Veröffentlichungen mit einer speziellen Kennzeichnung versehen. Zudem müssen sie ihre Finanzen offenlegen. Auf Grundlage des „Ausländische-Agenten-Gesetzes“ und der Terrorgesetzgebung waren in den vergangenen Jahren in Russland zahlreiche regierungsunabhängige Organisationen und oppositionelle Gruppen kriminalisiert worden. Im Februar wurden auch die Organisationen des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny verboten. Nawalny steht auf einer Liste von 420 politischen Gefangenen in Russland, die das Menschenrechtszentrum MEMORIAL im Oktober veröffentlichte.

Der Organisation wird nun vorgeworfen, grob und anhaltend gegen die Vorschriften des „Agentengesetzes“ verstoßen zu haben. Zum einen habe MEMORIAL Veröffentlichungen nicht gekennzeichnet. Ein Fehlen dieser Markierungen wird als Gefährdung der Öffentlichkeit ausgelegt, die,

„wenn sie nicht über den Agentenstatus informiert sei, einer negativen Beeinflussung ausgesetzt sei. Leser könnten etwa in Depressionen verfallen, wenn ihnen ein ‚negatives Bild vom Staat‘ vermittelt werde und die Markierung fehle.“

(Quelle)

Förderung von „Extremismus“ und „Terrorismus“

Zum anderen wird MEMORIAL vorgeworfen, „Extremismus“ und „Terrorismus“ Vorschub zu leisten. Dieser Vorwurf stützt sich ausschließlich auf ein „psycholinguistisches Gutachten“ der beiden umstrittenen Mitarbeiter*innen des privaten „Zentrums für soziokulturelle Gutachten“, Natalja Krjukova und Aleksandr Tarasov. Die beiden sind als Verfasser*innen von einschlägigen Gutachten, die von Strafverfolgungsbehörden in Auftrag gegeben wurden, bekannt (beispielsweise zur Gruppe „Novoe Velitschie“ und gegen die „Zeugen Jehovas“).

Die Kompetenz der Expert*innen wurde von etwa einem Dutzend Professor*innen der philologischen und psychologischen Wissenschaften und Spezialist*innen auf dem Gebiet der Linguistik und Psychologie bewertet. Alle äußerten ernsthafte Zweifel an der Kompetenz von Krjukova und Tarasov und schätzten die Qualität des Gutachtens als sehr gering ein. Auch Novaya Gazeta berichtete von der Zweifelhaftigkeit der von Krukova und Tarasov behaupteten Kompetenzen. Mal traten sie als Religionswissenschaftler*innen auf, mal als Sexologen. Auch als Sozialanthropologen, Sprachwissenschaftler*innen und Rechtswissenschaftler*innen sind die beiden laut Novaya Gazeta bereits in Erscheinung getreten. 

Kundgebungen in Berlin und Dresden

Die Verhandlung über die Auflösung des Menschenrechtszentrums MEMORIAL wurde auf den 29. Dezember, 10 Uhr Ortszeit, vertagt. Einen Tag zuvor könnte das Oberste Gericht bereits eine Entscheidung im Hinblick auf MEMORIAL International getroffen haben. An diesem Urteil dürfte sich das Moskauer Stadtgericht orientieren.

MEMORIAL Deutschland protestiert heute vor der Russischen Botschaft in Berlin gegen die drohende Zerschlagung der Organisation. Zeitgleich ist eine Mahnwache in Dresden auf dem Albertplatz geplant.


Foto: Mikhail Voskresenskiy / Sputnik / AFP

Update 28. Dezember 2021

Schwerer Schlag für Menschenrechte: Gericht ordnet Auflösung von MEMORIAL an

Grafik: AFP / Thorsten Eberding

Der Oberste Gerichtshof in Russland hat die Auflösung der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL angeordnet. Der Agentur Interfax zufolge gab Richterin Alla Nasarowa einem entsprechenden Antrag der Generalstaatsanwaltschaft wegen Verstoßes gegen russische Gesetze statt. 

MEMORIAL habe wiederholt gegen das „Gesetz über ausländische Agenten“ verstoßen, heißt es im Urteil. Auch stellte das Gericht eine Nähe zu Extremisten fest. Im Oktober veröffentlichte das Menschenrechtszentrum MEMORIAL eine Liste politischer Gefangener, viele davon stuft Russland als Extremisten ein. In diesem Zusammenhang wird MEMORIAL unterstellt, das „Mitwirken in terroristischen und extremistischen Organisationen“ zu unterstützen.

MEMORIAL kritisiert „politische Entscheidung“

MEMORIAL weist sämtliche Anschuldigungen zurück. Der Richterspruch sei eine „politische Entscheidung“ ohne Rechtsgrundlage mit dem Ziel der „Zerstörung einer Organisation, die sich mit der Geschichte politischer Repressionen und mit dem Schutz der Menschenrechte befasst“, sagte Jan Ratschinski von der MEMORIAL-Leitung. Er kündigte an, gegen das Urteil des Obersten Gerichts vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzugehen. 

MEMORIAL Deutschland schreibt, das Gerichtsverfahren habe „die ganze Absurdität des Gesetzes über ‚ausländische Agenten‘ schonungslos offengelegt“.

„Die Intention des Gesetzes ist politische Repression, seine Ausführungsbestimmungen sind so diffus, dass es vom Geschmack der jeweiligen Anklagevertretung bzw. dem von ihr jeweils gerade verfolgten Zweck abhängt, ob Einhaltung oder Verstoß festgestellt wird.“

Beobachter*innen sehen in dem Vorgehen gegen MEMORIAL auch den Versuch der russischen Führung, die sowjetische Geschichte umzudeuten. Während MEMORIAL Gedenkorte für die Opfer des Stalinismus schaffen will, erinnert der Kreml an Stalin vor allem als Kriegshelden und Bezwinger des Nationalsozialismus. Aufarbeitung, wie MEMORIAL sie betreibt, wird als Angriff auf dieses Geschichtsbild gewertet. *AFP/sah/ck

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