Polen nach der Wahl – Hoffnungsschimmer für Queers?

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Der frühere polnische Ministerpräsident und Oppositionsführer Donald Tusk könnte mit seiner Bürgerkoalition die PiS-Partei von Jarosław Kaczynski als Regierungspartei ablösen. Diese verlor bei der Parlamentswahl am 15. Oktober Stimmen und verfehlte die absolute Mehrheit, während drei Oppositionsparteien ersten Hochrechnungen zufolge genug Stimmen gewonnen haben, um die Regierungspartei zu verdrängen.

Die Wahlbeteiligung erreichte mit 72,9 Prozent ein Rekordniveau und war höher als bei der Absetzung der kommunistischen Machthaber durch das Land im Jahr 1989. Mancherorts standen die Menschen noch in der Schlange, als die Wahllokale offiziell geschlossen wurden, sodass einige Wahllokale bis spät in die Nacht geöffnet hatten. Das amtliche Endergebnis wird für Dienstag erwartet.

Ersten Wahlergebnissen und Nachwahlbefragungen des Meinungsforschungsinstituts Ipsos zufolge geht die Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ (PiS, deutsch: Recht und Gerechtigkeit) von Ministerpräsident Mateusz Morawiecki mit 36,8 Prozent zwar erneut als stärkste Kraft aus der Wahl hervor, verlor aber fast sieben Prozentpunkte zur letzten Wahl. 200 Sitze in dem 460 Sitze zählenden Unterhaus des Parlaments, dem Sejm, sind zu wenig für eine Regierungsmehrheit. Und ein Koalitionspartner ist nicht in Sicht. Selbst mit der rechtsextremen Partei Konfederacja, die im Wahlkampf eine Koalition mit der PiS ausgeschlossen hatte, würde es für eine Mehrheit im Sejm nicht reichen. Die Partei erhielt 12 Sitze, ein Ergebnis, das sie selbst als Niederlage einräumte.

PiS-Chef Jarosław Kaczynski erklärte abc News zufolge noch am Wahlabend, er werde „nicht zulassen [...], dass Polen verraten wird“. „Wir müssen Hoffnung haben und wir müssen auch wissen, dass wir, egal ob wir an der Macht oder in der Opposition sind, dieses (politische) Projekt auf verschiedene Weise umsetzen werden“.

Foto: Wojtek Radwanski / AFP

Genug Stimmen für das Oppositionsbündnis?

Die Nachwahlbefragung ergab auch, dass drei Oppositionsparteien zusammen wahrscheinlich 248 Sitze der 460 Sitze des Seijm erringen werden und demnach eine Regierungsmehrheit hätten.

Donald Tusk war als Vorsitzender der oppositionellen Bürgerplattform (PO) der Hauptgegner der rechtsnationalistischen PiS, die er ersten Prognosen zufolge nun nach acht Jahren von der Macht verdrängen kann. Erhebungen zufolge erreichte die Koalicja Obywatelska (KO, deutsch: Bürgerkoalition) des ehemaligen Ministerpräsidenten und ehemaligen EU-Präsidenten 31,6 Prozent der Stimmen, das entspricht 163 Sitzen. Donald Tusk verkündete noch am Wahlabend den Beginn einer neuen Ära. „Die Herrschaft der PiS ist vorbei“, rief der 66-Jährige am Sonntagabend bei der Wahlparty seiner Partei in Warschau. 

Das konservativ-liberale Wahlbündnis Trzecia Droga (TD, deutsch: Dritter Weg) kommt der Prognose zufolge auf 13 Prozent der Stimmen. Das von grünen, christdemokratisch-konservativen, pro-europäischen und zum Teil liberalen Ideen geprägte Bündnis trat zur Parlamentswahl in Polen 2023 erstmals an, sozusagen als dritter Weg zu den beiden dominierenden Parteien.

Mit 8,5 Prozent wird auch die linksliberale Nowa Lewica (NL, deutsch: Neue Linke) erneut im Sejm vertreten sein und Spitzenkandidatin Joanna Scheuring-Wielgus gibt sich selbstbewusst, dass sie mit ihrer Partei auch Teil der Regierung sein wird. „Wir sind die Garantie für die Frauenrechte, für einen säkularen Staat, für öffentliche Dienste, für Mietwohnungen, und wir werden all das sehr streng überwachen“, wird Scheuring-Wielgus in der tagesschau zitiert.

Foto: Beata Zawrzel / NurPhoto / NurPhoto via AFP

Kommt jetzt echte Veränderung?

Die aktuell den Ministerpräsidenten stellende PiS-Partei hat in den letzten acht Jahren ihrer Regentschaft einen harten Feldzug gegen die LGBTIQ*-Community und die sogenannte „LGBT-Ideologie “ geführt. Seit 2019 haben sich fast 100 Kommunalverwaltungen in Polen als „frei von LGBT-Ideologie“ erklärt, sogenannte „LGBT-freie“ Zonen erstreckten sich zeitweise über fast ein Drittel des Landes. Infolgedessen wurde Polen in den letzten vier Jahren in Folge zum EU-Land mit der schlechtesten Lebensqualität für Queers gekürt.


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Was verspricht die Bürgerkoalition?

Donald Tusk hatte vor der Wahl versprochen, im Falle eines Wahlsieges eine Reihe von Maßnahmen einzuführen, um das Leben der LGBTIQ*-Community in Polen zu verbessern. „Das Wichtigste ist, die Sprache des Respekts wieder aufzubauen“, sagte Tusk Ende September während eines Wahlkampfauftritts in der Stadt Piła im Nordwesten Polens. „Liebe verdient unseren Respekt.“ 

Auf die Frage, welche Zukunft die Bürgerkoalition mit ihren Koalitionspartnern für Menschen aufbauen will, die sich mit der Abkürzung LGBT identifizieren (HIER im Original auf Polnisch anzusehen), bezeichnete Tusk LGBTIQ*-Personen in Polen als „Opferminderheit“ und gab an, seine Fraktion habe zwei Gesetzesentwürfe vorbereitet. Der erste Gesetzentwurf werde „die derzeitigen sehr komplizierten und demütigenden, schrecklichen Gerichtsverfahren für Transsexuelle erheblich vereinfachen“. Das bestehende System verlangt von trans* Personen, ihre eigenen Eltern zu verklagen, um ihr gesetzlich anerkanntes Geschlecht zu ändern, da es keine Gesetzgebung gibt, die einen genauen Weg zur Geschlechtsanerkennung vorgibt.

Der zweite Entwurf, der sich auch im Wahlprogramm der Bürgerkoalition, den 100 Konkretow, findet, befasst sich mit der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes. Dieses Gesetz will Tusk in den ersten Monaten seiner Regierungszeit zur Priorität machen. „Es scheint, dass es gelingen wird, eine Mehrheit im Parlament aufzubauen, sodass [eingetragene Lebenspartnerschaften, Anm. d. Red.] sofort zur Realität werden“, so Tusk laut OKO Press.

Der Ehe für alle erteilte Tusk jedoch eine Absage. Die Gleichstellung der Ehe übersteige die Möglichkeiten des künftigen Sejm, so Tusk. „Gleichgeschlechtliche Hochzeiten mit allen daraus resultierenden Konsequenzen und Kontroversen sind ein viel schwierigeres Projekt.“ „Ich versuche immer vorsichtig zu sein, weil ich die Realität tatsächlich verbessern möchte“. Die Möglichkeit einer Lebenspartnerschaft werde gleichgeschlechtlichen Paaren wichtige Rechte einräumen. Deshalb möchte er diesen Schritt endlich wagen „und nicht noch weitere 20 Jahre damit verbringen, auf der Straße zu protestieren“.

Der dritte Weg

Im Wahlprogramm des Dritten Wegs findet sich zur Situation von LGBTIQ*s in Polen nichts. Dennoch erklärten die beiden Vorsitzenden Szymon Hołownia und Władysław Kosiniak-Kamysz, dass sie den Gesetzentwurf zur eingetragenen Lebenspartnerschaft unterstützen würden. Eine Abstimmung für die Gleichstellung der Ehe hatten beide wiederholt ausgeschlossen.

Die Linke mit europäischem Standard

Lediglich die Nowa Lewica hat in ihrem Wahlprogramm ein ernstzunehmendes Paket für LGBTIQ*s vorbereitet. Ihr stellvertretender Vorsitzender Robert Biedroń – er war von 2014 bis 2018 Bürgermeister von Słupsk und damit der erste offen schwule Bürgermeister des Landes – protestiert regelmäßig gegen Anti-LGBTIQ*-Gesetze, um Unterstützung für Bürgerrechtsgesetze zu gewinnen (männer* berichtete).

Im Zuge der Präsidentschaftswahlen 2020 (männer* berichtete) legte Robert Biedroń dem Sejm einen Gesetzentwurf zur Lebenspartnerschaft und einen zur Gleichstellung der Ehe vor. Die beiden Entwürfe unterscheiden sich in einem Punkt. Während im Gesetz über Lebenspartnerschaften das Adoptionsrecht lediglich einem*r Partner*in gewährt wird, erlaubt das von der Organisation Love Does Not Exclude ausgearbeitete Gesetz Ehegleichstellung die vollständige Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare.

Im Hinblick auf die Eheschließung schlägt die Linke anstelle der Unterzeichnung bei einem Notar eine vollständige standesamtliche Zeremonie vor. Darüber hinaus hätten LGBTIQ*-Personen, die eine Beziehung oder Ehe eingehen, das Recht, eine Gütergemeinschaft zu gründen, einen gemeinsamen Nachnamen anzunehmen, im Falle des Todes eines Partners dessen Beerdigung zu organisieren und zu erben.

Des Weiteren sieht das Programm der Linken eine Verschärfung des Strafgesetzbuchs hinsichtlich von durch Homophobie und Transphobie motivierter Hassverbrechen vor, Verbesserungen der rechtlichen Lage für trans* Personen sowie ein Verbot der menschenunwürdigen Konversionsbehandlungen.

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